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Wasser

Wasser

Titel: Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terje Tvedt
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stehenden Lebensweise der Hunzukuc. Von Natur aus ist das Hunzatal überaus niederschlagsarm und unfruchtbar. Und obwohl die Region von zahlreichen Flüssen durchzogen wird, können diese nicht direkt genutzt werden, weil sie oft hundert Meter tiefer liegen als das Erdreich. Während der Indus die Lebensader des südlichen Pakistans und Teilen Indiens darstellt, fließt der Hunza hier in einer Höhe von 3000 Metern über dem Meeresspiegel unerreichbar und fast unüberwindbar dahin. Gleichwohl haben die Hunzukuc über Generationen hinweg eine grüne Oase in diesem feindlichen Wüstenklima geschaffen. Ihre Lösung des Wasserproblems ist geradezu genial. Von einem üppigen Obstgarten aus kann ich lange Streifenerkennen, die in die steilen Felswände »eingeritzt« sind. Es handelt sich um kilometerlange Bewässerungskanäle, die das Schmelzwasser von den Gletschern ins Tal leiten und dadurch Landwirtschaft ermöglichen. Mit ein paar Arbeitern, die einen Kanal reparieren sollen, klettere ich zum Fuß des 7388 Meter hohen Berges Ultar Sar hinauf, der erst 1996 zum ersten Mal bestiegen wurde. Auf dem Weg nach oben passieren wir ein kompliziertes Netzwerk aus kleineren Kanälen, die das Wasser zu den verschiedenen Dörfern leiten. An ihrem Schnittpunkt liegt die Wachhütte des Mannes, der darauf achten soll, dass kein Dorf mehr Wasser erhält, als ihm zusteht. Als wir endlich oben angelangt sind, kann ich in das Tal zurückschauen. Während ich vorsichtig über das steinerne Kanalufer auf der Bergseite balanciere, bestätigt sich, was ich schon vorher gelesen habe: Jeder einzelne grüne Fleck in Karimabad erhält Wasser aus diesem Kanalnetzwerk.
    Noch beeindruckender werden die Kanäle, wenn man direkt über solch einem künstlichen, mit Wasser gefüllten Felsgraben steht. Manchmal nur einen halben Meter breit, manchmal mehr, sind sie durchaus groß genug, um betreten zu werden, doch da sie viel Wasser führen, ziehe ich es vor, mich über die aus losen Steinen bestehende Begrenzungsmauer zu bewegen – nicht sehr elegant, wie ich zugeben muss, doch da wir ohne Seile oder sonstige Sicherungen hier herumklettern, muss ich mich an der Felswand festklammern. An einigen Stellen bleibt mir nichts anderes übrig, als zu kriechen, da der Kanal direkt unter einem Felsüberhang in den Stein gehauen wurde. Als ich vorsichtig über den Rand der Kanalbegrenzung blicke und den Lauf der schmalen, gewundenen Wasserader verfolge, die das Schmelzwasser vom Gletscher hinunter ins Tal führt, bin ich mir sicher: Die Kanäle sind das wohl großartigste Beispiel für den Kampf einer Gesellschaft um die alltägliche Versorgung mit Wasser. Nur mithilfe von Steinen, dem Horn Sibirischer Steinböcke sowie selbst hergestelltem Schießpulver wurden sie angelegt – oftmals von Männern, die an Seilen in der Gegirgswand hingen und diese Pflichtarbeit leisteten. Hinzu kommt, dass die Kanäle das richtigeGefälle haben mussten: Waren sie zu steil, konnten sie von Steinen, die das Schmelzwasser mit sich führte, zerstört werden; waren sie zu flach, hätte sich der Schlamm in ihnen abgelagert. Gletscher sind aktive, pulsierende Gebilde. Sie bewegen sich ständig, was oft Erdrutsche verursacht. Daher sind permanente Reparaturarbeiten nötig, um die Kanäle offen zu halten. Da diese zudem mehrere Dörfer mit Wasser versorgen und die einzigen Wasserquellen der Bewohner darstellen, haben Bau, Überwachung und Instandhaltung des Systems eine Zusammenarbeit erzwungen, die in einer auf Niederschlag basierenden Landwirtschaft völlig unüblich wäre.
    Für den Bau dieses revolutionären Bewässerungssystems war eine starke Macht vonnöten. Vermutlich wurde sie von Mir Silum Khan III zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt, nachdem dieser aus dem Exil in Badachschan im heutigen Afghanistan zurückgekehrt war. Die von ihm mitgebrachte Technik war im Prinzip einfach, bedurfte aber der Organisation, des Durchhaltevermögens und der Fähigkeit, die Landschaft »lesen« zu können. Anstatt Nachbarorte anzugreifen, deren Bewohner gefangenzunehmen und als Sklaven zu verkaufen, wie es Herrscher jener Zeit gemeinhin taten, um Reichtum zu gewinnen, hatte Silum Khan eine bessere Idee: Er baute Bewässerungskanäle, schuf damit die Grundlage für größere Ortschaften und konnte somit höhere Steuereinnahmen verzeichnen. Er verteilte neues Land, verbündete sich mit anderen und vermehrte seine Macht, indem er die Rolle eines traditionellen
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, eines machtvollen

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