Wasser
Jahre nach seinem Tod pilgern Gläubige dorthin. Der Legende nach kam Shah Jalal aus Delhi, um den Islam zu verbreiten. Er besiegte den hinduistischen König Raja Gour Gobinda und verwandelte dessen Anhänger in Steinbeißer-Fische, deren Schicksal es nun war, bis in alle Ewigkeit in dem Brunnen vor dem Heiligtum herumzuschwimmen – wo sich übrigens noch das Schwert des Herrschers, seine Kleider und seine Ausgabe des Korans befinden. Erneut wird die Rikscha von einer Menschenmenge aufgehalten, die sich um drei Männer versammelt hat, welche wie verrückt auf einen wehrlosen Hund einschlagen. Das irrsinnige Geheul des Tieres und seine verzweifelten Augen verfolgen mich bis in die kleinen Gassen der Hauptstadt hinein, während mir bewusst wird, was die Ursache für die zahlreichen Menschen des Landes ist – und gleichermaßen dafür, dass Bengalisch an siebenter Stelle der am häufigsten gesprochenen Sprachen der Welt steht: Es sind die großen Flüsse Ganges und Brahmaputra, die im Laufe von Jahrtausenden das Erdreich ringsherum ungewöhnlich fruchtbar gemacht haben.
Meiner Erfahrung nach begegnen einem die schönsten Naturerlebnisse oft dann, wenn man sie am wenigsten erwartet. Erst vor kurzem habe ich einen wunderschönen Morgen auf einer Teeplantage in Sylhet erlebt, gerade als der Nebel sich lichtete. Und jetzt werde ich – ausgerechnet mitten in Dhaka – geradezu überwältigt vom Anblick der aufziehenden Dämmerung, während ich in einem gemieteten Ruderboot auf dem Fluss Padma sitze.
Bangladesch ist von Padma, Brahmaputra und Ganges gebildet worden. Das Land – im Prinzip eine Flussebene mit einem Delta – ist sozusagen die Entwässerungsanlage Asiens. Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung um weitere 100 Millionen Menschen anwachsen, nach manchen Berechnungen soll Bangladesch dann sogar mehr Einwohner haben als die USA. In Europa weisen die Niederlande die höchste Bevölkerungskonzentration auf und bilden zugleich
die
Entwässerungsregion des Kontinents. Die größte Bevölkerungsdichte Chinas und Afrikas findet man am Jangtse und im Delta des Gelben Flusses beziehungsweise im Niger- sowie Nildelta. Zwar sind bisher noch keine vergleichenden historischen Studien über die Entwicklung der weit verzweigten Deltas erstellt worden, aber eines lässt sich nicht bezweifeln: All diese Regionen werden großen Herausforderungen gegenüberstehen, doch keine hat derzeit so schlechte Bewältigungschancen wie Bangladesch. 48 Ändert sich das Klima, schmelzen die Gletscher im Himalaja und steigt der Meeresspiegel, liegt Bangladesch im Schnittpunkt zweier Gefahren – gefangen in einer Falle, aus der es kein Entkommen gibt. Nicht zuletzt ist das Land aufgrund einer unglücklichen Kombination aus schwierigen sozialen und naturbedingten Verhältnissen sehr verwundbar. Und Bangladesch liegt am Unterlauf eines Wasserweges, den es nicht selbst kontrollieren kann.
Wenn kein Hochwasser herrscht, sind 13 Prozent des Landes von Wasser bedeckt. Während eines normalen jährlichen Hochwassers steht ein Drittel des Landes unter Wasser, das dann, aus der Luft betrachtet, einem Inselstaat gleicht. Bei extremem Hochwasser können bis zu 65 Prozent des Landes überflutet sein. 1998 dauerte solch eine Überschwemmung über zwei Monate an, und die Regierung musste Nahrung und Unterkunft für 20 Millionen Menschen herbeischaffen. Anders ausgedrückt: Die Allgemeinheit und der Staat stehen vor strukturellen Problemen, mit denen sich westliche Länder in diesem Umfang nie befassen mussten.
Überall bekomme ich die gleiche Geschichte zu hören: Das Leben in dieser Flussebene gleicht einer Risikosportart. So war esfrüher schon, so ist es heute, und so wird es in verstärktem Maße auch in Zukunft sein. Das extrem rasche Wachstum der Bevölkerung hat dazu geführt, dass tiefer liegende Bereiche der Flussebene besiedelt, mit Verkehrswegen und Häusern bebaut wurden. Kanäle und kleine Nebenflüsse, die früher das Wasser abgeleitet haben, wurden zugeschüttet. Beinahe im selben Takt, in dem die Gefahr erhöhter Wasserstände durch das Abschmelzen des Eises steigt, ist das Land noch verwundbarer für die Folgen des Hochwassers geworden. Bereits 1988 hatte Bangladesch mehr Straßen pro Gebietseinheit als jedes andere Land. 49
Der Brahmaputra ist 2900 Kilometer lang. Ungefähr zur Hälfte liegt er in Tibet, dann durchquert er die indischen Bundesstaaten Arunachal Pradesh und Assam, um schließlich Bangladesch zu erreichen, wo er sich
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