Wassermanns Zorn (German Edition)
Aus dem Jungen, der seine kleine Schwester begrapscht hatte, war ein zäher, wenn auch blasser junger Mann geworden. Sie hatten ihn im Schlaf überrascht und nach allen Regeln der Kunst verdroschen. Anschließend hatten sie ihm zu verstehen gegeben, dass er verschwinden sollte, und ihn blutend und zitternd in dem alten Haus zurückgelassen.
Eric hatte schon eine ganze Weile nicht mehr daran gedacht. Der Junge musste wirklich wütend auf ihn sein, wenn er sich traute, nach der Lektion noch mal hier aufzutauchen. Er hatte aus seinem Fehler von damals gelernt und sich diesmal geschickt angestellt. Aber er war längst nicht so schlau, wie er glaubte, wenn er sich zum zweiten Mal mit dem Falschen anlegte. Dieses Mal würde er nicht lebend davonkommen. Dafür hatte er zu viel Staub aufgewirbelt.
Durch die Baumreihen hindurch sah Eric jetzt das große Holzhaus. Es ruhte auf unzähligen Eichenpfählen zwei Meter über dem Wasser. Ein drei Meter langer Steg verband es mit dem Land. In der Dunkelheit veschwanden die Pfähle, und es sah tatsächlich so aus, als schwämme das alte Haus auf dem Wasser. Zum See hinaus hatte es vier Fenster, zwei auf jeder Seite der breiten Tür, die direkt auf den Steg führte. Er ragte gut zwanzig Meter weit in den Gorreg hinein.
Eric war sich nicht sicher, aber er glaubte, vor dem Steg ein Boot im Wasser treiben zu sehen.
38
«Aufhören!», schrie Frank gegen den Lärm der Naturgewalten an. Der Mann hatte ihn nicht bemerkt, und jetzt stand er zwei Meter hinter ihm.
Kommissar Nielsen stand bis zu den Knien im Wasser und drückte Manuela Sperling unter Wasser.
Frank verstand gar nichts mehr, aber er wusste, er musste handeln. Als er an der verfallenen Holzbude vorbeigerannt war, hatte die Polizistin sich noch gewehrt und mit Armen und Beinen um sich geschlagen, aber jetzt bewegte sie sich nicht mehr. Ihre Arme trieben leblos auf der Wasseroberfläche.
Nielsen riss erschrocken den Kopf herum. Frank streckte den rechten Arm aus. In seiner Faust hielt er das Tierabwehrspray, das er aus seinem Taxi mitgenommen hatte. Die Düse befand sich keine zehn Zentimeter vom Gesicht des Polizisten entfernt. Bei dem Wind und Regen musste das auch sein. Er sprühte dem Mann eine ordentliche Ladung direkt in die weitaufgerissenen Augen. Er selbst wandte den Kopf beiseite, damit der Wind ihm das Zeug nicht in die Augen trieb. Der Überfall durch den Stinker vorgestern war also doch zu etwas gut gewesen.
Nielsen schrie auf, als hätte ihm jemand ein Messer in die Rippen gejagt. Im selben Moment zuckte ein greller Blitz über den dunklen See, und die Luft zischte und knisterte. Hoffentlich hatte er nicht ins Wasser eingeschlagen – aber nein: Am anderen Ufer explodierte förmlich eine Kiefer. Der folgende ohrenbetäubende Donner ließ Franks Lunge vibrieren.
Nielsen war ins Wasser gefallen, rappelte sich wieder auf, riss die Hände hoch und rieb sich die Augen.
Frank war für einen Sekundenbruchteil unschlüssig. Was sollte er tun? Manuela Sperling trieb leblos mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Eine gutgezielte Ladung Pfefferspray setzte einen Mann mindestens zehn Minuten außer Gefecht. Zeit genug, sich um die Polizistin zu kümmern und sich davon zu überzeugen, ob sie wirklich nicht mehr lebte.
Er watete auf Manuela zu, packte sie unter den Achseln und zog sie aus dem Wasser. Selbst in der nassen Kleidung war sie nicht besonders schwer. Er presste sie sich gegen den Brustkorb und ging rückwärts das flache Ufer zum Strand hinauf, stolperte, fiel hin, geriet unter Wasser, verschluckte sich daran. Spuckend und hustend kämpfte er sich wieder hoch, packte sie fester und schleifte sie weiter aufs Trockene.
Am Ufer unter den Bäumen legte er Manuela auf den Rücken. Dann sah er sich nach dem Polizisten um. Der stand immer noch vornübergebeugt im See und spritzte sich wieder und wieder Wasser in die Augen. Der würde noch eine Weile mit sich selbst beschäftigt sein.
Manuelas Gesicht war voller dunklem Schlamm. Er konnte nicht erkennen, ob sie atmete, deshalb suchte er ihren Puls und meinte auch, ihn zu spüren. Aber sicher war er nicht. So aufgeregt und außer Atem, wie er war, konnte es sich auch um seinen eigenen handeln.
«Ruhig, bleib ganz ruhig», sagte er zu sich selbst. Wie gut, dass er vorhin die Pille genommen hatte. Dass er bisher noch keine Kataplexie bekommen hatte, war Beweis genug für die Wirksamkeit des Medikaments, das er so verabscheute.
Sein Bruder Helmut bestand darauf, dass
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