Wassermanns Zorn (German Edition)
Kopf schnellte vor, wieder zurück und wieder vor. Dann verschwand er mit ausgestrecktem Schussarm um die Ecke. Zwei Sekunden später folgte ihm Manuela.
Vor ihnen lag eine zum See hin offene Halle ohne Boden, in die der Wind allerlei Treibgut hineingespült hatte. Holz, Äste, Plastikflaschen, eine schlappe violette Luftmatratze und allerlei anderen Müll. Es roch modrig. Das vom Wind aufgewühlte dunkle Wasser schwappte schmatzend gegen die Holzstelzen. Die Halle war übersichtlich, verstecken konnte sich niemand darin, es sei denn …
Manuela hielt inne und sah sich den breiten Teppich aus Treibgut, der mit trägen Bewegungen auf dem Wasser schwamm, genauer an. Sie musste an das Treibgut unter der Weide am Fluss denken, in dem Anna Meyers Leiche festgekeilt gesteckt hatte.
Vielleicht war es hier genauso.
Was war das da, neben der violetten Luftmatratze?
Sah das nicht aus wie ein Gesicht?
Manuela trat einen Schritt vor, legte Nielsen eine Hand auf die Schulter und sagte leise: «Da vorn, neben der Luftmatratze, was ist das?»
Er sah genauer hin.
«Ich kann nichts erkennen.»
Im Inneren des Bootshauses verlief ein schmaler, kaum mehr als schulterbreiter Steg an den Seiten entlang. Ein Ausläufer ragte aufs Wasser hinaus und teilte den Treibgutteppich in der Mitte. Von diesem Steg aus waren die Gäste früher in die Boote ein- und ausgestiegen.
Nielsen testete die nicht gerade stabil wirkenden, von einem rutschig grünen Belag überzogenen Bretter vorsichtig mit dem Fuß auf ihre Belastbarkeit und wagte es schließlich. Manuela wollte ihm folgen, doch er stoppte sie mit einer schnellen Handbewegung.
«Bleibt da, das trägt uns nicht alle.»
Langsam schob er sich an den Wänden entlang. Hinter sich hörte sie Stiffler atmen.
Nielsen erreichte den Mittelsteg, der noch weniger stabil wirkte als der Rest des alten Bootshauses. Die Bohlen bogen sich unter seinem Gewicht. Er wagte sich dennoch bis zur Hälfte vor und ließ sich dort auf die Knie sinken, beugte sich weit vor, zog einen Ast aus dem Wasser und stocherte damit so lange in dem Treibgut herum, bis er die helle Stelle, die Manuela aufgefallen war, zu sich herangezogen hatte.
Was Manuela für ein bleiches totes Gesicht gehalten hatte, entpuppte sich als ein Stück weiße Plastikfolie. Auf der Spitze des Stocks hielt Nielsen es hoch, warf dann beides ins Wasser und kam zurück.
«Hier ist nichts», sagte er. Sie verließen das Bootshaus und gingen zum Strand hinauf. Regen setzte ein. Die ersten dicken, schweren Tropfen zogen die Schwüle aus der Luft, um sie im See zu ertränken.
«Schlecht für den Hubschrauber», bemerkte Stiffler, der ganz vorn am Wasser stand und auf die Regenfront deutete, die sich wie ein gewaltiger grauer Vorhang über den Wald schob.
Manuela wollte ihm schon zurufen, dass er vom Wasser verschwinden solle, da summte ihr Handy in der Innentasche ihrer Jacke.
Sie steckte ihre Waffe ins Futteral, zog das Handy hervor und drehte den Rücken in den Wind, damit der Regen ihr nicht ins Gesicht schlug.
«Sperling», meldete sie sich.
«Nina Vossfeld hier.»
«O … Nina, du bist es, mit dir habe ich gar nicht gerechnet. Gibt es etwas Neues?»
«Ich hatte doch versprochen, wegen des alten Falls bei meinen Kollegen nachzufragen. Heinemann, mein Stellvertreter, hat damals daran gearbeitet. Er hat wirklich ein phänomenales Gedächtnis, kann sich aber an nichts Außergewöhnliches erinnern.»
«Schade, aber das hatte ich mir schon gedacht.»
«Frag doch Nielsen, vielleicht weiß der ja etwas», sagte die Pathologin.
«Hab ich schon. Der war nicht beteiligt.»
«Doch, war er. Heinemann sagt, Nielsen wäre damals bei der Obduktion dabei gewesen.»
Der Schock, den Ninas Worte auslösten, hätte nicht größer sein können. Es donnerte. Manuela zuckte zusammen und erstarrte dann in Sprachlosigkeit.
Ich weiß nicht mal, woran ich damals gearbeitet habe.
Das hatte Nielsen gesagt, als sie ihn gefragt hatte. Natürlich hatte sie ihm geglaubt
Manuela bekam eine Gänsehaut auf dem Rücken. Zwei Männer standen hinter ihr. Keinem von ihnen konnte sie vertrauen.
«Ist alles in Ordnung bei dir?», fragte die Pathologin am Telefon besorgt.
Manuela räusperte sich.
«Ich … Ja, okay, danke. Ich melde mich wieder.»
Was sie erfahren hatte, änderte alles. Sie hatte den beiden Männern beim Telefonieren den Rücken zugedreht, hoffentlich hatten sie nicht mitbekommen, wie ihr die Gesichtszüge entglitten waren. Sie musste sich
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