Wassermanns Zorn (German Edition)
gewesen. So konnte man sich täuschen. Vielleicht war es im Streit geschehen. Vielleicht hatte Susan Hoffmann Eric Stiffler zu sehr in Rage gebracht, sodass er sie im Affekt getötet hatte. Das wäre möglich. Dazu gehört nicht unbedingt Mut.
Schade, dass sie ihn nicht mehr befragen konnten.
Manuela trat in die Morgensonne hinaus. Die heftigen Gewitter hatten dem schwülen Wetter ein Ende bereitet. Der Himmel war klar, die Temperaturen mild. Es war, als wolle das Wetter sie besänftigen und Frieden schließen mit ihr.
Frank wartete im Wagen am Straßenrand, genau an der Stelle, an der sie selbst vor drei Tagen auf Nielsen in dessen Wagen gewartet hatte. Manuela ging über den Rasen auf den silbernen Škoda zu. Plötzlich runzelte sie die Stirn und blieb auf der Hälfte des Weges stehen.
Sie hatte eine Art Déjà-vu.
Sie drehte sich um, sah zur Haustür, dann wieder zum Wagen, und ihr wurde heiß.
Sie erinnerte sich daran, wie Peter Nielsen aus dem Haus gekommen war, nachdem er den betrunkenen Stiffler hineingetragen hatte.
Er hatte den Kofferraumdeckel seines Autos geöffnet und war mit einer weißen Plastiktüte zurück ins Haus gelaufen. Sie hatte gedacht, dass Kleidung zum Wechseln darin war. Aber wenn sie genau darüber nachdachte, hatte sie schwer heruntergehangen. Zu schwer für ein paar Kleidungsstücke eigentlich.
Zwanzig Minuten später war er frisch geduscht und mit einem neuen Shirt ins Auto gestiegen.
Ohne Plastiktüte.
Im Angesicht des Todes verhärteten sich Frank Englers Gesichtszüge. Er nickte und presste mühsam ein «Ja, das ist sie» zwischen den blutleeren Lippen hervor, dann wandte er sich ruckartig von dem Leichnam ab und fragte nach der Toilette.
Manuela begleitete ihn bis zur Tür.
«Alles in Ordnung?», fragte sie.
Frank nickte. «Geht schon … ich muss nur mal raus.»
Seine Stimme klang brüchig, und Manuela begriff, dass er für ein paar Minuten allein sein musste. Die Ansprache vorhin im Wagen hatte natürlich nicht gereicht, um ihm seine Schuldgefühle zu nehmen. Wie könnte sie auch? Manuela hatte das Gefühl, Frank sei vielleicht ein wenig verliebt gewesen in Lavinia Wolff. Das machte es umso schwerer. Manuela würde ihn in den nächsten Tagen nicht allein lassen. So lange, bis sie sicher sein konnte, dass er zurechtkommen würde.
Lavinia Wolff war ertrunken. Man hatte sie noch am Tag der Geschehnisse in fünf Metern Tiefe eingeklemmt unter dem durch Schüsse leckgeschlagenen Ruderboot gefunden. In ihrem Rücken steckte eine Kugel, abgefeuert von Eric Stiffler. Manuela ging davon aus, dass er sie wegen des schwarzen Tauchanzugs für den Wassermann gehalten hatte. Warum Turunnen ihr den Anzug angezogen hatte – vielleicht aus genau dem Grund, damit Stiffler in seine Falle tappte? –, darüber konnte Manuela nur spekulieren.
«Lass dir Zeit», rief sie ihm nach, während er in der Herrentoilette verschwand. Sie starrte die Tür noch ein paar Sekunden an und lauschte nach einem Geräusch, wie wenn ein Körper zu Boden fällt. Diese Sache mit den Kataplexien fand sie noch immer unheimlich und begriff nicht, wie man damit leben konnte.
Schließlich wandte sie sich ab und kehrte in den Kühlraum zurück. Nina Vossfeld wartete an der geöffneten Schublade auf sie.
«Wie geht’s ihm?», fragte sie.
«Nicht so gut.»
Nina nickte. «Ich wollte dir noch etwas zeigen», sagte sie, zog das grüne Laken herunter und legte den Bauch der Leiche frei.
Die Buchstaben waren unterschiedlich groß und nur schwer zu lesen. Man konnte erkennen, dass sie in großer Eile in die Haut gebrannt worden waren.
für Siiri
Manuela stockte der Atem, und ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinab. Sie fragte sich, ob sie je bis ins letzte Detail erfahren würde, was zu diesem tiefen Hass zwischen Stiffler und dem Wassermann geführt hatte. Stiffler, das wusste sie jetzt, hatte schon damals, nach dem Unfalltod der kleinen Siiri Turunnen, ermittelt. Es gab eine Akte darüber. Aus der ging jedoch nur hervor, dass das Mädchen während eines Unwetters im Gorreg ertrunken war. Ihr Bruder hatte ihr helfen wollen, hatte sie aber nicht retten können. Er war damals der einzige Augenzeuge gewesen. Stiffler hatte ihn im Rahmen der Ermittlungen vernommen. Was war dabei vorgefallen? Sie würden es nie erfahren. Die, die es wussten, waren tot.
Nina Vossfeld deckte die Leiche zu und schloss die Schublade.
Gemeinsam gingen sie hinaus und setzten sich in die blaue Sitzgruppe für Besucher. Von dort
Weitere Kostenlose Bücher