Wassermanns Zorn (German Edition)
alles sein», sagte er. «Aber der Täter wird ja wohl nicht gerade der Weltmeister im Apnoe-Tauchen sein, oder? Wenn er also keine Pressluft dabeigehabt hat, wie kann es dann sein, dass er entkommen konnte? Und selbst wenn er Pressluft dabeihatte, hätten Stiffler und diese Neue ihn trotzdem nicht entkommen lassen dürfen.»
Schröder nahm einen zweiten Aluminiumkoffer aus dem Bus, schob die Tür wieder zu, und sie machten sich auf den Weg. Nach ein paar Metern blieben sie stehen.
«Was ist das?», fragte Berg und deutete auf ein Auto, das jemand dicht am Gebüsch abgestellt hatte. «Ist schon jemand von der Kripo hier?»
«Mir hat keiner was gesagt.»
Die beiden sahen sich kurz an. Sie arbeiteten schon einige Jahre zusammen, und sie waren schon einmal auf einen Täter gestoßen, der sich den Ort seiner Tat noch einmal anschauen wollte. Das schien gerade unter Mördern wohl zum guten Ton zu gehören. Damals war der Täter ein Jugendlicher gewesen, den sie leicht überwältigen konnten, aber Hauke Schröder hatte sich später oft gefragt, was passiert wäre, wenn sie auf einen wirklich gefährlichen Psychopathen gestoßen wären.
«Komm, wir sehen uns das mal an», sagte Berg. «Ein Angler wird es ja wohl nicht sein, der Wagen parkt schließlich hinter dem Absperrband.»
Wegen seiner Größe war nicht das gesamte Areal abgesperrt worden, aber an sämtlichen Zuwegungen flatterte rot-weißes Absperrband, und an den Hauptzufahrten aus Osten und Süden hatten die Nacht über Streifenwagenbesatzungen Wache gehalten. Das war ganz und gar nicht zufriedenstellend, aber für mehr fehlte ganz einfach das Personal.
Sie näherten sich dem Wagen von hinten. Es war ein schwarzer Mercedes älteren Baujahrs. Er war stark verschmutzt, an den hinteren Stoßfängern klebten Lehmbrocken.
Durch die Heckscheibe konnten sie erkennen, dass niemand im Wagen saß.
«Vorsichtig», sagte Schröder, als sein Partner den Koffer abstellte und näher heranging, «vielleicht versteckt sich darin jemand.»
Er lugte durch das Seitenfenster und schüttelte den Kopf.
«Niemand drin.»
«Ich glaube, ich kenne den Wagen», sagte Schröder. «Gehört der nicht KHK Stiffler?»
4
Der Chlorgeruch war wie ein Schlag ins Gesicht.
Er hasste diesen Geruch. Der Unterschied zum Seewasser hätte nicht größer sein können. Das Wasser im See war weich, es streichelte seine Haut, aber dieses hier war aggressiv, und wenn er darin schwimmen musste, war es, als zersetze es seine Haut. Er konnte sich nicht konzentrieren, er fühlte sich angegriffen, und alles in ihm schrie nach Flucht, und diese Unkonzentriertheit führte dazu, dass er hier nie gewann.
Ganz anders als seine Schwester.
Obwohl Siiri das Wasser im See genauso liebte wie er, hatte sie mit dem künstlichen, gechlorten Wasser keine Probleme. Sie schwamm sogar noch schneller darin, weil es nicht so kalt war.
Und dann dieser Lärm!
Den hasste er noch mehr als den Geruch.
Hunderte Kinder hatten sich in der Schwimmhalle versammelt. Alle redeten, lachten, juchzten und schrien herum. Es war ein Sturm aus Geräuschen, der ihn überwältigte, sobald er die Halle betrat. Er betäubte seine Ohren, betäubte seinen Kopf, und das Gefühl, nicht richtig denken zu können, würde noch tagelang anhalten.
Er verzog das Gesicht, als litte er Schmerzen, hielt aber die schwere Schwingtür auf und ließ seine Eltern und seine Schwester hindurchgehen. Siiri trug bereits ihre rote Badekappe. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet, ihre Augen waren groß und glänzend. Schon während der Fahrt war sie zappelig gewesen und hatte nur davon gesprochen, Weltmeisterin zu werden. Dieser Gedanke war so fest in ihrem Kopf verankert, dass gar kein Zweifel daran bestehen konnte. Sie würde es schaffen, irgendwann. Heute aber war ihr großer Tag bei den Kreismeisterschaften.
Sein Vater hatte ihn natürlich auch angemeldet. Er würde in seiner Altersklasse gegen fünf andere Jungen im Brustschwimmen antreten. In dieser Disziplin war er sehr gut, besser als sein Vater, und dennoch würde er nicht gewinnen. Die Geräusche und Gerüche in der Halle hatten ihn sofort außer Gefecht gesetzt.
Während er hinter ihnen hertrottete, beobachtete er, wie sein Vater sich hinabbeugte, um seine Schwester auf die Stirn zu küssen. Dabei lag seine große Hand auf ihrem gebräunten Rücken. Gesten der Beruhigung und Aufmunterung. Nur für sie, niemals für ihn.
Sie meldeten sich an und bekamen ihre Startnummern.
Er war noch vor seiner Schwester
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