Wassermanns Zorn (German Edition)
raste wie der sprichwörtliche Henker, aber Manuela musste anerkennen, dass er sehr gut fuhr. Trotz des hohen Tempos kam es zu keiner einzigen brenzligen Situation.
Sie fragte sich trotzdem, was das sollte.
Zwei Kollegen der Spurensicherung hatten Eric Stiffler gefunden. Eile war nicht mehr notwendig.
Als sie die Zufahrt zum See erreichten, hatte Manuela anstelle ihres Magens einen festen Klumpen im Bauch. Die Erinnerung an den vergangenen Abend kam wieder hoch und sorgte für schweißnasse Hände und Herzrasen.
Sie saß in einem sicheren Wagen und hatte trotzdem Angst vor dem Wasser, vor dem Wesen, das sie am Bein berührt hatte. In der Nacht, wenn sie endlich eingenickt war, hatte sie von dieser Berührung geträumt, und sie hatte danach geschlagen und war davon aufgeschreckt. In diesem Traum hatte er sie fest gepackt und unter Wasser gezogen. Sie hatte sich nicht wehren können, war tiefer und tiefer gesunken und hatte über sich langsam das Sonnenlicht verblassen sehen.
In Wirklichkeit war es nur eine zarte Berührung gewesen, fast schon eine Liebkosung. Warum eigentlich hatte er sie nicht richtig angegriffen? Weil Stiffler am Ufer stand?
Die Zeiten, in denen sie arglos in einem See gebadet hatte, waren jedenfalls für immer vorbei.
Nielsen parkte seinen silbernen Toyota neben dem VW-Bus der Spurentechniker. Zwei Männer saßen in der geöffneten Schiebetür. Der große Kräftige rauchte, der kleine Runde reinigte einen länglichen, silbernen Gegenstand. Manuela fand, dass sie aussahen wie Dick und Doof.
«Wo?», fragte Nielsen.
Der große Kräftige streckte den Arm aus und zeigte auf einen schmalen Trampelpfad, der zwischen hohen Gräsern und Brennnesseln auf das Seeufer zuführte.
«Sieht echt schlimm aus», sagte er.
Manuela fand, dass er um die Nase herum sehr weiß war.
«Haben Sie sonst noch mit jemandem darüber gesprochen?», fragte Nielsen.
«Nee, nur mit Ihnen. Wie Sie gesagt haben.»
«Okay. Danke. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn Sie anfangen können. Lassen Sie uns bitte ein paar Minuten Zeit.»
«Kein Problem», sagte der Dickere.
Manuela hatte Mühe, mit Nielsens langen Schritten mitzuhalten.
«Warum tut er so was?», fragte Nielsen. «Dieser verdammte Idiot.»
Manuela wusste nicht, ob diese Frage an sie gerichtet war, und sie wusste auch nicht, was sie darauf antworten sollte, deshalb schwieg sie. Ihr fiel auf, dass sie an diesem Morgen ohnehin noch nicht viel gesagt hatte. Das lag wohl an den Nachwirkungen des Schocks. Es gab also doch etwas, was sie zum Schweigen brachte. Das hätte ihren Vater gefreut.
Sie passierten Stifflers schwarzen Mercedes und kämpften sich durch das Dickicht. Manuela spürte Brennnesseln an ihren Händen brennen, feine Spinnweben legten sich auf ihr erhitztes Gesicht. Dort, wo die Sonnenstrahlen bereits die Luft erwärmten, schwirrten Hunderte Insekten umher, angezogen vom Duft von Holunder und Weißdorn. Ein intensiver und betörender Duft. Ihr Bauch entspannte sich etwas.
Sie wäre lieber im Präsidium geblieben. Auf das, was sie gleich zu sehen bekommen würden, und auf die Nähe des Wassers hätte Manuela gern verzichtet, außerdem hatte sie die alte Ermittlungsakte des Prostituiertenmordes von vor drei Jahren durchgehen wollen. Aber Nielsen hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen.
«Sie wollen doch Teil des Teams sein, oder nicht?», hatte er sie gefragt und sie dabei mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen.
Manuela hatte sofort verstanden. Nielsen würde die Ermittlungen übernehmen, und er wollte sich vergewissern, ob sie auf seiner Seite war.
Nielsen war ihr nicht unsympathisch. Im Moment tat er ihr sogar ein wenig leid. Er hatte versucht, seinen Kollegen zu schützen, und der hatte nichts Besseres zu tun, als ihm in den Rücken zu fallen. Nielsen focht in seinem Inneren einen Interessenkonflikt aus, und ob Manuela ihm völlig vertrauen würde, hing vom Ergebnis dieses Kampfes ab.
Vor ihnen tauchte der See auf.
Friedlich, geradezu romantisch lag er da, nur das dunkle Wasser wirkte abweisend.
Stiffler saß mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt, die Beine gerade von sich gestreckt, die Fußspitzen nach oben. Seine Kleidung war vollkommen eingesaut von Lehm und Speiseresten. Er hatte sich übergeben. Die halbverdauten Bröckchen klebten an seinem Hemd und am Hals. Er starrte wie tot aufs Wasser. Zwischen den gespreizten Beinen lag seine Dienstwaffe, der Lauf steckte im Gras. Zu seiner Rechten lag eine leere Flasche billigen jamaikanischen
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