Wassermanns Zorn (German Edition)
dran.
Sie warteten auf der kleinen Tribüne, und er versuchte, die Geräusche und Gerüche auszublenden und sich auf seinen Wettkampf vorzubereiten. Er wollte gewinnen. Er wollte allen zeigen, dass er der Schnellste war. Draußen im See würde ihn keiner der Jungs, gegen die er heute antrat, je schlagen können. Sie hatten nicht seine Klasse. Also musste es doch auch hier, in dieser verfluchten Halle, klappen, wenn er sich nur stark genug konzentrierte.
Aber die Stimmen!
Sie drangen tief in den Kopf und hallten darin wie in einer engen Höhle wider, sie waren mal lauter, mal leiser, aber immer im Vordergrund. Er konnte sie einfach nicht ausblenden.
Schließlich wurde seine Startnummer aufgerufen.
Sein Vater gab ihm einen Klaps auf die Schulter und wünschte ihm alles Gute. Seine Mutter warf ihm einen Handkuss zu und packte einen Energieriegel für seine Schwester aus. Als er am Fuße der Tribüne angekommen war, hörte er jemanden seinen Namen rufen und drehte sich um.
Es war Siiri.
Sie war ihm gefolgt. In der Hand hielt sie ihren Riegel.
«Beiß ab», sagte sie, «das bringt Kraft.»
Er wollte eigentlich nicht, tat ihr aber den Gefallen, weil sie so eine bezaubernde Zuversicht ausstrahlte.
«Du gewinnst!», sagte sie.
Dann wandte sie sich ab und lief die Stufen der Tribüne hinauf. Das Stück Riegel wurde zu einem klebrigen Klumpen in seinem Mund, und er sah ihr hinterher. Sie sah wunderschön aus in ihrem roten Badeanzug.
Ruckartig riss er sich von ihrem Anblick los, begab sich zu seinem Startblock und setzte die Schwimmbrille auf.
Die Schreie wurden noch lauter, noch intensiver. In seinem Kopf war nur noch Lärm, in seinem Mund der künstliche Geschmack des Riegels, vor seinen Augen das Bild seiner Schwester, wie sie die Stufen hinauflief.
Der Startschuss fiel.
Kaum eingetaucht, spürte er, wie das Wasser seine Haut verätzte. Er verschluckte sich, und als er wieder auftauchte, hustete er, schluckte Wasser, spie es wieder aus und kam von der Bahn ab. Er touchierte den Beckenrand. Als er sich wieder gefangen hatte, lagen die anderen bereits weit vorn, und er wusste, er würde sie nicht mehr einholen.
Er wurde Letzter.
Noch der schlechteste Schwimmer der Gruppe hatte ihn weit hinter sich gelassen. Er hörte hämisches Gelächter, sah feixende Gesichter und schämte sich in Grund und Boden.
«Was war das denn?», fragte sein Vater, als er die Tribüne erreichte.
Er riss sich die bescheuerte Badekappe vom Kopf.
«Nichts.»
«Das kannst du doch viel besser», beharrte sein Vater und wollte ihn an der Schulter festhalten, aber er wand sich aus seinem Griff.
«Kann ich nicht!», schrie er und zeigte auf seine kleine Schwester, die bereits auf dem Weg zum Becken war. «Sie kann es besser. Lass mich doch endlich in Ruhe mit deinen blöden Wettkämpfen!»
Er stieg die Tribüne hinauf und spürte die Blicke. Schaut ihn euch an, den Verlierer, sagten diese Blicke, der kann ja nicht mal geradeaus schwimmen.
In seinem Inneren starb etwas und hinterließ eine große Leere.
Wieder fiel ein Startschuss. Seine kleine Schwester stieß sich ab, tauchte formvollendet ein und schwamm wie eine echte Weltmeisterin. Sie gewann mit großem Abstand. Die anderen hatten nicht die geringste Chance.
Als sie aus dem Becken krabbelte, waren seine Eltern sofort bei ihr. Sein Vater packte sie an der Taille, stemmte sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis, seine Mutter stand daneben und klatschte. Die ganze Halle applaudierte. Alle freuten sich für den kleinen, süßen Delfin mit der braunen Haut und dem unwiderstehlichen Lächeln.
Für seine Schwester.
Stocksteif beobachtete er das Spektakel und spürte dabei, wie in seinem Inneren etwas Neues wuchs an der Stelle, an der zuvor etwas gestorben war.
5
Eine halbe Stunde wollte Frank warten. Dreißig Minuten, in denen sie vielleicht vom Brötchenholen oder einem morgendlichen Spaziergang zurückkehren würde. Dreißig Minuten, in denen Frank seinen Puls und seine Gefühle zu beruhigen versuchte. Er duschte hastig, föhnte sein Haar, zog frische Kleidung an, räumte ein wenig auf, spülte die Tassen, kochte Kaffee und wartete. Doch sie kam nicht.
Als die halbe Stunde um war, hielt er es keine Minute länger in seiner Wohnung aus.
Er lief das Treppenhaus hinunter und zu seinem Taxi, das er am Straßenrand geparkt hatte. Er fädelte sich in den Verkehr ein, rief Barbara an und entschuldigte sich bei ihr. Natürlich hatte Helmut längst mit ihr gesprochen. Frank spürte, dass sie sich für ihn
Weitere Kostenlose Bücher