Wassermanns Zorn (German Edition)
reißen. Hundegebell, Türenschlagen, Sirenen, Telefonklingeln, die Toilettenspülung aus der Nachbarwohnung.
«Okay», sagte Helmut, und die Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. «Werde erst mal wach. Ich muss weiter, hab einen Termin. Ich sage Barbara Bescheid. Ist einiges los heute, wir könnten dich brauchen.»
«Ja klar, ich komme … Ich muss nur erst …»
Frank schob sich ein Stück vor und schaute ins Treppenhaus.
«Dir ist nicht vielleicht eine junge Frau entgegengekommen? Mit blondem Haar?»
Helmuts Mimik hellte sich auf.
«Daher weht also der Wind. Barbara hat schon so etwas angekündigt. Jung und blond … Kein Wunder, dass du schläfst wie ein Bär.»
Er griente bis zu den Ohren.
«Quatsch», sagte Frank verlegen. «Wir haben nur geredet.»
«Nee, is klar.»
Lachend wandte Helmut sich ab und lief die Treppe hinunter.
«Ich sag Barbara, dass du in einer Stunde da bist, okay?»
«Ja, ja», rief Frank seinem Bruder hinterher und schloss die Tür.
Er drehte sich um und lauschte.
In seiner Wohnung war es so still wie immer. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sich noch jemand anderes darin aufhielt, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Frank, das alles nur geträumt zu haben. Dann fiel ihm wieder ein, was er Lavinia in der Nacht angeboten hatte, und lief zum Schlafzimmer hinüber.
Vor der geschlossenen Tür stehend, lauschte er abermals.
Nichts.
Es war spät geworden, wahrscheinlich schlief sie noch tief und fest. Aber hätte sie bei aller Müdigkeit Helmuts Sturmklingeln überhören können?
Frank klopfte
«Lavinia?»
Keine Antwort, er klopfte kräftiger, rief ihren Namen lauter, aber auch darauf kam keine Reaktion. Also nahm er seinen Mut zusammen und öffnete die Tür.
Das Schlafzimmer war leer, das Bett unbenutzt. Zumindest nahm Frank das an. Da er sein Bett nie machte, war das schwer zu sagen.
Er drehte sich um und öffnete die gegenüberliegende Tür zum Badezimmer, dem einzigen Raum, in dem sie noch hätte sein können, aber auch dort fand er sie nicht.
Er sah sich unschlüssig um.
Wieso war sie einfach so verschwunden? Selbst wenn sie unbedingt nach Hause wollte, hätte sie ihm doch eine Nachricht dalassen können. Frank fiel das Frühstück wieder ein. Ja, das musste die Lösung sein. Er lief ans Küchenfenster, das auf die Straße hinausging, öffnete es und lehnte sich hinaus. Von dort aus konnte er in beide Richtungen jeweils fünfzig Meter die Straße einsehen. Ein paar Leute waren unterwegs, aber keine Lavinia. Er ließ das Fenster geöffnet, durchquerte die Wohnung und trat auf den Balkon hinaus. Von dort konnte er die Nebenstraße sehen, die aber nach wenigen Metern hinter den Nachbarhäusern verschwand.
Nichts.
War sie wirklich einfach so gegangen?
Gestern Abend unter der Abflugtafel im Terminal hatte sie so einsam, hilflos, vielleicht sogar ein bisschen verzweifelt gewirkt, und sie war froh gewesen, ihn zu sehen. Es hatte ihr leidgetan, ihm nicht Bescheid gegeben zu haben, und nach all dem, was sie ihm in der letzten Nacht erzählt hatte, glaubte Frank nicht, dass sie noch einmal einfach so verschwinden würde.
Zurück im Wohnzimmer, schaute Frank sich nach der Bierflasche um. Seine stand auf dem Tisch, eine zweite aber war nicht zu sehen. Er ging in die Küche und fand sie ausgespült auf der Ablage. Ein wenig Erleichterung mischte sich unter seine Sorgen, denn das war ein eindeutiges Indiz dafür, dass sie hier gewesen war. Andererseits … Er konnte die Flasche auch selbst getrunken haben. Und auch den zweiten Kaffeebecher konnte er selbst benutzt haben.
«Quatsch», sagte Frank laut.
Sie musste hier gewesen sein. Er hatte in seinem ganzen Leben noch keine Bierflasche ausgespült und wusch auch seine Kaffeebecher nicht sofort nach der Benutzung ab, sondern immer erst, wenn kein sauberer mehr im Schrank stand.
Aber wo zum Teufel war sie?
3
Die Spurentechniker Torsten Berg und Hauke Schröder näherten sich dem See von Westen. Im Präsidium waren die beiden erfahrenen Spezialisten als «Das alte Ehepaar» bekannt. Sie arbeiteten zusammen, tranken zusammen, stritten und vertrugen sich und fuhren sogar gemeinsam in den Urlaub.
Gestern Abend war die Spurensuche wegen Dunkelheit abgebrochen worden und sollte jetzt, am frühen Vormittag, fortgesetzt werden. Der Wetterdienst hatte schwülwarmes Wetter mit Gewitterneigung am Abend angekündigt. Noch war die Spurenlage unverändert, das würde sich durch einen Starkregen, wie er oft mit einem
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