Wassermanns Zorn (German Edition)
freute, auch wenn sie wie immer um diese Zeit im Stress war, weil neben den normalen Fahrgästen noch Schüler transportiert und Krankenfahrten absolviert werden mussten. Er bat sie, ihn noch eine Weile nicht einzuplanen, und sie fragte, ob es etwas mit der Frau zu tun hätte, die nur von ihm vom Flughafen abgeholt werden wollte.
Er bejahte und beendete das Gespräch.
Es tat ihm leid, Barbara hängenlassen zu müssen, und er würde es irgendwie wiedergutmachen, aber er konnte nicht einfach seinem Job nachgehen, ehe er nicht wusste, wo Lavinia war. Er hatte einen Verdacht, und der tat ein bisschen weh.
In der vergangenen Nacht hatte sie mit solcher Wehmut und Sehnsucht von diesem Haus in Taormina gesprochen. Vielleicht war sie, während er geschlafen hatte, zu der Überzeugung gelangt, das Land heute doch noch verlassen zu wollen. Gestern hatte sie noch gesagt, nicht länger flüchten zu wollen, aber musste das etwas heißen?
Sie hätte ihm zumindest eine Nachricht dalassen können.
Und weil sie das nicht getan hatte, kam ihm diese Möglichkeit nicht besonders überzeugend vor. Aber wenn sie nicht freiwillig gegangen war – dann hatte ihr Verfolger sie doch noch gefunden.
Einige Minuten später parkte Frank seinen Škoda vor Lavinias Haus. In der Hoffnung, nicht wieder von dem Grillkommando überrascht zu werden, schritt er den schmalen, von Büschen gesäumten Weg entlang und klingelte an der Haustür.
Niemand öffnete, auch nach dem vierten Klingeln nicht. Nach einem Blick in die Runde wagte er es, noch einmal durch den Briefschlitz zu schauen. Der Laptop in der Tüte lag noch genau so da wie am gestrigen Abend.
Er hastete zurück zum Taxi und dachte nach.
Sollte er wieder zum Flughafen fahren? Frank startete den Motor und fuhr los. Es war die reine Verzweiflung, die ihn dazu trieb.
Weil er keinen anderen freien Platz fand, reihte er sich als Letzter in die Taxischlange ein, schloss seinen Wagen ab und lief hinüber zum Abflugterminal.
Auf der Fahrt hinaus zum Flughafen hatte er die ganze Zeit dieses eine Bild vor Augen gehabt: Lavinia, wie sie unter der Tafel mit den Abflugzeiten stand. Aber dort war sie nicht. Er studierte die Tafel und fand heraus, dass bisher nur ein Flug nach Rom gegangen war.
Lufthansa, Flug 739.
Den konnte sie genommen haben, um von dort aus weiterzufliegen.
Der nächste Flug nach Rom ging in zwei Stunden. Ein Direktflug nach Sizilien stand nicht auf der Tafel.
Frank drehte sich im Kreis. Bei den vielen Menschen in der weitläufigen Halle würde er sie nicht finden, wenn sie nicht gefunden werden wollte. Dennoch ging er hierhin und dorthin, suchte vor den Schaltern, in den Cafés und Bistros, im Zeitschriftenladen, stieg auch die Treppen zur Besucherterrasse hinauf, von der aus man die startenden und landenden Flugzeuge beobachten konnte. Zurück in der Halle, postierte er sich zehn Minuten lang vor den Damentoiletten. Aber Lavinia kam nicht heraus.
Schließlich ging er zur Information und fragte, ob sie ihm weiterhelfen könnten. Er müsste dringend wissen, ob eine Bekannte heute von hier in Richtung Italien abgeflogen sei.
Die Dame am Schalter sah ihn aus schmalen Augen an.
«Solche Informationen dürfen wir nicht herausgeben», sagte sie in freundlich professionellem Ton.
«Hören Sie», versuchte Frank es. «Es ist wirklich lebenswichtig. Helfen Sie mir doch bitte.»
Ihre rechte Hand ging zum Telefon.
«Ich kann den Sicherheitsdienst für Sie rufen.»
Frank trat einen Schritt zurück.
«Nicht nötig.»
Während er sich entfernte, spürte er die Blicke der Frau in seinem Nacken. Außerdem bemerkte er zwei Beamte der Flughafenpolizei, die von einer Galerie aus die Menschenmenge beobachteten.
Es hatte keinen Sinn.
Sie war nicht hier.
Enttäuscht und ratlos kehrte er zu seinem Taxi zurück. Als er mit hängenden Schultern an der Reihe der Taxis vorbeitrottete, beobachtete er einen Kollegen, der das Gepäck seines Fahrgastes in den Kofferraum lud.
Die letzten paar Schritte rannte Frank.
Aufgeregt nestelte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete den Kofferraum des Škoda.
Jetzt war er vollkommen sicher, dass Lavinia nirgendwo hingeflogen war.
6
Manuela Sperling fuhr mit Peter Nielsen hinaus zu dem kleinen See, der nicht einmal einen Namen hatte. Es war eine wortkarge Fahrt in angespannter Atmosphäre, die jeder mit seinen eigenen Gedanken verbrachte, nicht bereit, sie mit dem anderen zu teilen. Nielsen hatte das Einsatzlicht aufs Dach geklemmt und
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