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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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dem er lebte. Es war möbliert, aber wenn man in den Flur hinaustrat und jemand böte einem das ganze Geld auf den unzähligen Konten auf allen Schweizer Banken für eine Beschreibung der Einrichtung, bliebe man so arm wie zuvor. Dem Apartment mangelte es an Charisma. Es war ein Ort, an den man kam, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft waren. Nichts Grünes, nichts Lebendes existierte in diesen Wohnkästen. Keine Augen blickten einen von der Wand her an. Weder Wärme noch Kälte füllte den Raum. Es war ein Ort, um zu warten.
    Caspar lehnte seinen zugeklappten Jagdstock, der jetzt ein Spazierstock mit Griffen war, an das Bücherregal. Er studierte die Titel der Taschenbücher, die ohne System in dem Regal standen.
    Aus der kleinen angrenzenden Küche drang das Geräusch von Wasser, das in einen Metalltopf floß. Dann das einer Blechdose auf Gußeisen. Dann das Zischen von Gas und der knisternde Hauch eines angezündeten Streichholzes, schließlich das Puff, als das Gas sich entzündete.
    »Vor vielen Jahren«, sagte Caspar und zog eine Ausgabe von Moravias »Die Gleichgültigen« heraus, in der er beim Weitersprechen herumblätterte, »besaß ich eine Bibliothek mit, oh, Tausenden von Büchern – ich brachte es niemals übers Herz, eines auszusondern, auch das schlechteste nicht –, und wenn Leute zu Besuch kamen, schauten sie sich um und betrachteten alle Winkel und Ritzen, die vollgestopft mit Büchern waren; und wenn sie von der Sorte waren, die mit Büchern nicht viel im Sinn haben, stellten sie immer die gleiche dumme Frage.« Er wartete einen Moment auf eine Reaktion, und als keine erfolgte (das Geräusch von Porzellantassen auf den Kacheln der Spüle), fuhr er fort: »Raten Sie mal, welche Frage das war.«
    Aus der Küche kam ohne besonderes Interesse: »Keine Ahnung.«
    »Jeder fragte mich mit der Art von Stimme, mit der die Leute in Museen vor großen Statuen zu sprechen pflegen, sie fragten mich: ›Haben Sie all diese Bücher gelesen?‹« Er wartete wieder, aber Billy Kinetta ging nicht auf sein Spiel ein. »Nun, junger Freund, im Laufe der Zeit wird diese gleiche dumme Frage eine Million Mal gestellt, und man neigt dazu, darauf etwas mürrisch zu reagieren. Ich war soweit, daß sie mir mehr als nur ein bißchen auf die Nerven ging. Bis ich mir endlich die richtige Antwort ausgedacht hatte. Und Sie können sich sicher denken, wie die richtige Antwort lautet. Nur zu, raten Sie mal!«
    Billy erschien in der Küchentür. »Ich nehme an, Sie sagten, daß Sie einige davon gelesen hätten, aber nicht alle.«
    Caspar schmetterte diesen Rateversuch mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Was wäre damit erreicht worden? Sie hätten nie gemerkt, daß sie eine dumme Frage gestellt haben, aber andererseits wollte ich sie auch nicht beleidigen. Wenn sie mich also fragten, ob ich all die vielen Bücher gelesen hätte, sagte ich: ›Um Himmels willen, nein. Wer möchte schon eine Bibliothek voller Bücher haben, die er schon gelesen hat.‹«
    Billy lachte unwillkürlich. Er strich sich leicht vergnügt durchs Haar und schüttelte den Kopf über die Energie des alten Mannes. »Caspar, Sie haben für Ihr Alter noch ganz schön viel Schwung. Sind Sie pensioniert?«
    Der alte Mann ging mit Bedacht zu der bequemsten Sitzgelegenheit im Raum, einem ausladenden Sessel im Stil der dreißiger Jahre, der schon etliche Male neu gepolstert worden war, bevor Billy Kinetta ihn im Wohltätigkeitsladen der Amerikanischen Krebsgesellschaft gekauft hatte. Er ließ sich mit einem Seufzer hineinsinken.
    »Nein, herrje, ich bin keineswegs pensioniert. Ich bin immer noch überaus aktiv.«
    »Was machen Sie denn, wenn ich fragen darf?«
    »Ich bin Ombudsman.«
    »Sie meinen, so eine Art Verbraucheranwalt. Wie Ralph Nader?«
    »Genau. Ich beobachte die Dinge. Ich höre mir Sachen an, ich achte auf einiges besonders; und wenn ich meine Sache gut mache, kann ich auch manchmal einiges bewirken. Ja, wie Mister Nader. Ein sehr guter Mann.«
    »Und waren Sie auf dem Friedhof, um das Grab eines Verwandten zu besuchen?«
    Caspars Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck der Trauer. »Mein liebes altes Mädchen. Meine Frau, Minna. Sie hat mich vor … warten Sie, im Januar war es zwanzig Jahre her, daß sie mich verlassen hat.« Er saß schweigend da und starrte einen Moment lang in sich hinein, dann fuhr er fort: »Sie hat mir alles bedeutet. Mit am schönsten war, daß ich wußte, wie wichtig wir füreinander waren; wir haben uns über

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