Wassermelone: Roman (German Edition)
vaterloses Kind wichtig erschien.
Vermutlich überkompensierte ich, weil ich jetzt eine alleinerziehende Mutter war. Tut mir leid, Schätzchen, du hast keinen Vater, weil ich nicht klug oder schön genug war, ihn zu halten, aber ich will das dadurch ausgleichen, dass ich dich mit irdischen Gütern überschütte.
Dann bat ich Judy, mir einige Windeln zurückzugeben.
»Wozu?«, fragte sie und hielt sie fest an sich gedrückt.
»Es könnte ja im Flieger zu einem Zwischenfall kommen«, sagte ich und versuchte, sie ihr zu entreißen.
»Haben die dir im Krankenhaus denn keine Binden mitgegeben?« , fragte sie. Es klang entrüstet.
»Nicht mir könnte ein Zwischenfall passieren, aber der Kleinen . Strenggenommen wäre es ja nicht wirklich ein Zwischenfall«, sagte ich nachdenklich, »sondern eher Berufsrisiko.« Zögernd gab sie mir drei Windeln.
»Weißt du, du kannst sie nicht ewig ›die Kleine‹ nennen«, sagte Judy. »Du wirst ihr einen Namen geben müssen.«
»Mir fällt im Augenblick aber keiner ein«, sagte ich und merkte, wie Panik hochkam.
»Aber was hast du denn in den letzten neun Monaten getan?« Erneut klang Judys Stimme entrüstet. »Du musst dir doch ein paar Namen überlegt haben.«
»Hab ich auch«, sagte ich, und meine Lippe begann zu zittern. »Aber ich hab das mit James zusammen getan. Es ist nicht recht, ihr einen von diesen Namen zu geben.«
Judy sah mich ein wenig verärgert an. Aber da ich wieder den Tränen nahe war, sagte sie weiter nichts.
Für mich selbst nahm ich außer einer Handvoll Bücher zur Kinderpflege kaum etwas mit. Wozu, dachte ich, jetzt, wo mein Leben vorbei ist .
Außerdem passte mir nichts mehr. Ich öffnete den Kleiderschrank und wich vor den herablassenden Blicken zurück, mit denen mich all meine viel zu engen Kleider musterten. Kein Zweifel: Sie redeten miteinander über mich.
Ich konnte förmlich sehen, wie sie sich anstießen und sagten: »Sieh dir nur an, wie dick sie ist. Glaubst du allen Ernstes, dass wir zierlichen Sechsunddreißiger was mit der Vierundvierziger-Figur zu schaffen haben wollen, die sie mit sich rumschleppt? Kein Wunder, dass ihr Mann mit einer anderen durchgebrannt ist.«
Ich wusste genau, was sie dachten.
»Du hast dich gehenlassen. Dabei hast du immer wieder gesagt, du würdest das nicht tun. Du hast uns enttäuscht und dich selbst auch.«
»Tut mir leid«, erklärte ich unterwürfig. »Ich verspreche euch, dass ich abnehme. Ich komm zu euch zurück, sobald ich kann.«
Ihre Skepsis ließ sich mit Händen greifen.
Ich hatte die Wahl zwischen meinen Umstandskleidern oder Jeans, die James bei seinem überstürzten Aufbruch zurückgelassen hatte. Ich zog sie an und betrachtete im Schlafzimmerspiegel meinen abstoßenden übergewichtigen Körper. Ich sah verheerend aus! Ich kam mir vor, als hätte ich den Michelinmännchen-Anzug meiner großen Schwester angezogen. Oder noch schlimmer, als wäre ich immer noch schwanger.
In den Wochen unmittelbar vor der Geburt hatte ich gewaltige Ausmaße. Richtig kugelrund war ich. Das Einzige, was mir in jener Zeit gepasst hatte, war mein grünes wollenes Kittelkleid, und da mein Gesicht wegen meiner beständigen Übelkeit stets grün war, sah ich aus wie eine Wassermelone, die sich Stiefel angezogen und ein wenig Lippenstift aufgelegt hatte. Zwar war ich jetzt nicht mehr grün, sah aber in jeder anderen Beziehung nach wie vor aus wie eine Wassermelone. Wie eine Wassermelone, die eine Packung Eisentabletten hätte vertragen können.
Was passierte da mit mir? Wohin waren mein wirkliches Ich und mein wirkliches Leben entschwunden?
Schweren Herzens – nicht das einzige Schwere an mir – rief ich ein Taxi an, das uns zum Flughafen bringen sollte. Es klingelte an der Tür. Ich sah mich ein letztes Mal in meinem Wohnzimmer um, warf einen letzten Blick auf die halbleeren Regale mit den Löchern darin, die nagelneue, ungebrauchte Gegensprechanlage zur Überwachung des Kinderzimmers, die an der Wand hing (was für eine Geldverschwendung ), und den Berg Windeln auf dem Fußboden, die wir zurückließen.
Ich schloss mit Nachdruck die Tür hinter mir, bevor ich wieder anfing zu weinen.
Ja, ich weiß. Ziemlich aufgesetzte Symbolik. Tut mir leid.
Dann fiel mir auf, dass mir etwas fehlte. »Gott«, sagte ich, »meine Ringe.« Ich rannte wieder hinein und holte meinen Verlobungs- und meinen Ehering aus dem Schlafzimmer. Sie hatten in den letzten beiden Monaten auf dem Nachttisch gelegen, weil auch meine Finger
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