Wassermelone: Roman (German Edition)
zurückschleppte.
Als Judy kam, war mir klar, dass sie über James Bescheid wusste, denn sie sagte: »Claire, ich weiß wegen James Bescheid.« Außerdem merkte ich es daran, dass sie mit leeren Händen gekommen war: Sie hatte weder einen riesigen Blumenstrauß noch eine küchentischgroße Glückwunschkarte voller Störche mitgebracht. Nicht einmal ein breites Lächeln schenkte sie mir. Statt dessen schien sie besorgt und nervös.
Das Herz sank mir bis in die Zehenspitzen. Wenn James es auch anderen erzählte, musste es stimmen.
»Er hat mich verlassen«, sagte ich melodramatisch.
»Ich weiß«, sagte sie.
»Wie konnte er nur?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Er hat eine andere«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte sie.
»Wieso weißt du das?«, fragte ich und stieß wie ein Raubvogel mit dem Kopf nach ihr.
»Von Michael. Aisling hat es ihm gesagt. George hat es ihr gesagt.«
Michael war Judys Freund, Aisling war eine Arbeitskollegin von ihm, und ihr Mann George arbeitete in James’ Büro.
»Also weiß es jeder«, sagte ich leise.
Eine Pause trat ein. Judy sah aus, als würde sie am liebsten sterben.
»Dann wird es wohl stimmen«, sagte ich.
»Das denke ich auch«, sagte sie, offensichtlich betreten.
»Kennst du die andere?«, fragte ich. Es war mir unangenehm, sie in eine so peinliche Situation zu bringen, aber ich musste es erfahren, und vorher war ich zu entsetzt gewesen, um James selbst zu fragen.
»Äh, ja«, sagte sie, noch betretener als zuvor. »Es ist Denise.«
Es dauerte eine Minute, bis ich begriff, von wem sie sprach.
»WAS!«, schrie ich. »Doch nicht die nette Denise von unter uns?«
Ein klägliches Nicken Judys antwortete mir. Nur gut, dass ich schon lag.
»So ein Luder! «, stieß ich hervor.
»Es geht noch weiter«, murmelte sie. »Er redet davon, dass er sie heiraten will.«
»Was zum Teufel willst du damit sagen?«, brüllte ich sie an. »Er ist schon verheiratet. Mit mir. Ist seit neuestem vielleicht die Vielehe erlaubt?«
»Ist sie nicht«, sagte sie.
»Aber dann …« Meine Stimme schwand.
»Claire«, seufzte sie niedergeschlagen. »Er sagt, dass er sich scheiden lassen will.« Wie gesagt, nur gut, dass ich schon lag.
Der Nachmittag verging, zusammen mit Judys Geduld und jeglicher Hoffnung, die ich möglicherweise noch gehabt hatte. Ich sah sie verzweifelt an.
»Judy, was soll ich nur tun?«
»Sieh mal«, sagte sie nüchtern. »In zwei Tagen kommst du hier raus. Du hast eine Wohnung, genug Geld, um dich und die Kleine zu ernähren. Du musst dich um ein Neugeborenes kümmern und gehst in sechs Monaten wieder arbeiten. Lass James ein bisschen Zeit. Bestimmt werdet ihr eine Lösung finden.«
»Aber Judy«, jammerte ich. »Er will sich scheiden lassen.«
Allerdings schien er dabei etwas Wichtiges übersehen zu haben. In Irland kannte man keine Scheidung. Wir hatten in Irland geheiratet. Der Pfarrer der Kirche Unserer Lieben Frau von der immerwährenden Hilfe hatte unsere Ehe gesegnet. Viel schien es ja nicht genützt zu haben. Fahr dahin, immerwährende Hilfe.
Ich war völlig ratlos. Ich fühlte mich allein und hatte Angst. Am liebsten hätte ich mir die Decke über den Kopf gezogen und wäre gestorben. Aber das ging nicht, denn ich musste mich um ein hilfloses Neugeborenes kümmern.
Was für ein Start ins Leben für die Kleine! Noch keine zwei Tage alt, und schon hatte der Vater sie verlassen, und ihre Mutter stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Zum tausendsten Mal fragte ich mich, wie James mir das nur hatte antun können.
»Wie konnte James mir das antun?«, fragte ich Judy.
»Das hast du mich schon etwa tausendmal gefragt«, sagte sie.
Das stimmte.
Ich wusste nicht, wie er mir das hatte antun können, ich wusste nur, dass er es getan hatte.
Bis dahin hatte ich wohl angenommen, dass mir das Leben die unangenehmen Dinge in gleich großen mundgerechten Happen zuteilte, und zwar immer nur so viel, wie ich jeweils verarbeiten konnte. Wenn ich von anderen Menschen hörte, die von mehreren Katastrophen gleichzeitig heimgesucht wurden (eine Frau hatte in ein und derselben Woche einen Verkehrsunfall, verlor ihre Arbeit und erwischte ihren Freund mit ihrer Schwester im Bett), hatte ich immer gedacht, dass sie selbst die Schuld daran hätten. Na ja, nicht gerade Schuld . Aber wer sich aufführt, als könnte ihm jederzeit etwas zustoßen, dem stößt etwas zu, und wer mit dem Schlimmsten rechnet, dem passiert es auch.
Jetzt erkannte ich, wie falsch
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