Wassermelone: Roman (German Edition)
einer Amöbe (tatsächlich so viel?), zwölf Kilo Übergewicht, einer Vagina, die zehnmal so groß war wie sonst, und kurz vor Eintritt der nachgeburtlichen Depression.
Das Flugzeug startete, und die Straßen und Häuser Londons entschwanden unter mir. Aus dem Fenster sah ich zu, wie sie immer kleiner wurden. Ich ließ sechs Jahre meines Lebens hinter mir.
Ob sich ein Flüchtling so fühlt? Irgendwo da unten war mein Mann. Irgendwo da unten war meine Wohnung, waren meine Freunde. Irgendwo da unten war mein Leben.
Ich war dort glücklich gewesen.
Dann schob sich eine Wolke dazwischen.Wieder diese aufgesetzte Symbolik! Ich bitte nochmals um Entschuldigung.
Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück, meine Kleine auf dem Schoß. Wahrscheinlich hielten mich alle anderen Passagiere für eine normale Mutter. Aber ich war keine. Das wurde mir blitzartig klar. Ich war eine sitzengelassene Ehefrau, eine Stelle hinter dem Komma in der Statistik.
Im Laufe meines Lebens war ich alles Mögliche gewesen: Claire, die brave Tochter, Claire, die kratzbürstige Tochter, Claire, die Studentin, Claire, die Hure (nur kurz. Wie schon gesagt, liefere ich Einzelheiten nach, falls wir Zeit haben), Claire, die Angestellte, und Claire, die Ehefrau. Und jetzt war ich Claire, die sitzengelassene Ehefrau. Diese Rolle passte mir ganz und gar nicht, das kann ich Ihnen sagen.
Ich hatte (trotz meiner angeblichen Aufgeschlossenheit) stets angenommen, sitzengelassene Ehefrauen kämen in Sozialwohnungen vor, und ihre Männer machten sich mit einer Flasche Wodka, dem Haushaltsgeld und dem Geld vom Sparbuch der Kinder davon, nachdem sie ihrer Frau zum Abschied noch schnell ein blaues Auge geschlagen hatten. Die Frauen blieben dann weinend mit einem riesigen Berg unbezahlter Rechnungen und vier verhaltensgestörten Kindern unter sechs Jahren zurück, die eins wie das andere Spritztouren mit gestohlenen Autos machten, und dachten sich Geschichten aus, um ihr blaues Auge zu erklären – dass sie beispielsweise gegen eine Tür gerannt waren oder was in der Art.
Es war ernüchternd und erhellend zu sehen, wie sehr ich mich geirrt hatte. Ich war eine sitzengelassene Ehefrau. Ich, Claire aus der Mittelschicht.
Das wäre eine ernüchternde und erhellende Erfahrung gewesen, hätte sie mich nicht so verbittert, und hätte ich mich nicht so wütend und verraten gefühlt. Was war ich? Eine Art tibetischer Mönch? Die verdammte Mutter Teresa?
Aber auf sonderbare Weise merkte ich durch das Selbstmitleid und die Selbstgerechtigkeit, dass ich eines Tages, wenn alles vorüber war, durch diese Erfahrung unter Umständen ein besserer Mensch sein könnte und dass sie mich unter Umständen stärker, weiser und einfühlsamer machen würde.
Aber jetzt war es wohl noch nicht so weit.
»DeinVater ist ein Schwein«, flüsterte ich meinem Kind ins Ohr. Der hilfsbereite, schwule Priester zuckte zusammen. Er hatte mich wohl gehört.
Nach einer Stunde begann die Landung. Wir kreisten über den grünen Flächen im Norden Dublins, und obwohl ich wusste, dass die Kleine noch gar nicht richtig sehen konnte, hielt ich sie ans Fenster, damit sie einen Blick auf Irland erhaschte. Es sah ganz anders aus als das London, das wir gerade hinter uns gelassen hatten. Während ich auf das Blau der Irischen See und den grauen Dunst über den grünen Weideflächen sah, merkte ich, dass ich mich noch nie elender gefühlt hatte. Ich kam mir wie ein Versager vor.
Vor sechs Jahren hatte ich, gespannt auf die Zukunft, Irland verlassen. Ich würde eine großartige Stellung in London antreten, einen wunderbaren Mann kennenlernen und von da an glücklich leben. Und ich hatte eine großartige Stellung bekommen, hatte einen wunderbaren Mann kennengelernt und hatte von da an – nun, jedenfalls eine Weile – glücklich gelebt. Aber dann war alles irgendwie aus dem Gleis gelaufen, und ich war jetzt wieder in Dublin mit dem erniedrigenden Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben.
Aber ein wesentlicher Punkt war anders. Ich hatte ein Kind. Ein vollkommenes, schönes, wunderbares Kind. Das hätte ich gegen nichts in der Welt eingetauscht.
Der hilfsbereite, schwule Priester neben mir machte ein sehr betretenes Gesicht, während ich hemmungslos heulte. Nur zu , dachte ich. Lass es dir ruhig peinlich sein. Du bist ein Mann. Wahrscheinlich hast auch du zahllose Frauen so zum Weinen gebracht.
Ich hatte schon Tage erlebt, an denen ich vernünftiger gewesen war.
Nachdem die Maschine ausgerollt war,
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