Wassermelone: Roman (German Edition)
durchlaufe eine Ablehnungsphase. Der Schock, dass James mich Knall auf Fall verlassen hatte, sei so groß gewesen, dass ich ihn nicht akzeptieren oder verarbeiten könnte. Es sei für mich einfacher, so zu tun, als wäre nichts geschehen, und alles komme in Ordnung, wenn ich mir einbildete, alles lasse sich in Ordnung bringen.
Ich saß in der kalten, dunklen Diele auf dem Fußboden. Nach langem Warten legte ich auf.
Mein Herz, das wie wild gehämmert hatte, fand seinen normalen Rhythmus wieder. Meine Hände hörten auf zu zittern. In meinem Kopf klangen die Fantasien und Trugbilder ab.
Ich würde nicht im Laufe des Vormittags nach London zurückkehren. Der Mittelpunkt meines Lebens war zurzeit hier. Wenigstens für eine Weile.
Ich fühlte mich elend.
Nach all der Begeisterung, die der Gedanke in mir ausgelöst hatte, ich könnte mit James reden und die Dinge mit Liebesschwüren ins Lot bringen, stürzte ich in die größte Trübsal, die tiefste Leere, die ich je empfunden hatte. Sie war so groß wie ein Kontinent, so tief wie der Atlantik und so leer wie Helens Hirn.
Allmählich fror es mich an den Füßen.
Obwohl ich so müde war, als wäre ich tausend Jahre alt, meinte ich nie wieder schlafen zu können.
Die Qual des Verlustes, die ich empfand, war zu groß, als dass sie mich hätte schlafen lassen. Dabei wollte ich um alles in der Welt schlafen. Alles, nur nicht dies Gefühl.
Wie sehr wünschte ich, dass wir eine neurotische Mutter hätten! Eine, die im Medizinschrank im Bad kistenweise Schlafmittel, Valium und Antidepressiva hortete.
In Wirklichkeit hatte sie sich immer aufgeführt, als wären wir Anwärter für die Betty-Ford-Suchtklinik, wenn wir wegen Halsschmerzen, Magenschmerzen, eines gebrochenen Beines oder eines durchgebrochenen Zwölffingerdarmgeschwürs zwei Schmerztabletten haben wollten. »Bringt es als Opfer dar«, pflegte sie zu sagen. »Denkt an unseren Herrn Jesus, wie er am Kreuz leiden musste« oder »Was würdet ihr tun, wenn niemand die Schmerztabletten erfunden hätte?« Darauf bekam sie von uns in der Regel die Antwort: »Verglichen mit diesen Ohrenschmerzen wäre es das reinste Vergnügen, ans Kreuz geschlagen zu werden« oder »Du darfst mich jeden Tag an eine Säule binden und auspeitschen, wenn du mir nur meine Zahnschmerzen nimmst.«
Mit solch kessen Sprüchen hatten wir uns endgültig jegliche Aussicht verscherzt, von Mum Schmerzmittel zu bekommen. Gotteslästerung nahm auf ihrer Liste unverzeihlichen Handelns einen Spitzenplatz ein.
Wie sehr wünschte ich, dass meine Schwester Anna die Schmerzmittel ausgab. Was hätte ich in jenem Augenblick für ein Gelonida gegeben!
Wie die Dinge lagen, bestand kaum Aussicht, auch nur ein alkoholisches Getränk zu finden. Beide Eltern tranken nicht viel, und so hatten sie nur äußerst wenig Alkohol im Haus.
Das ist mein voller Ernst. Es hatte nichts mit Grundsatzentscheidungen zu tun, sondern war einfach so.
Sogar wenn sie Alkohol im Hause haben wollten, war das, dank mir und in jüngerer Zeit auch dank meiner Schwestern, stets nur sehr wenig.
Unser Wahlspruch schien zu sein: »Kein Alkoholgehalt ist zu hoch oder zu niedrig. Vor uns sind alle Getränke gleich.« Alles von hochprozentigem schwarz gebranntem Whiskey über Cherry Brandy bis Babycham und allem dazwischen war (wenn ich so sagen darf) Wasser auf unsere Mühle.
Als ich jünger war, in den glücklichen Tagen, bevor ich entdeckt hatte, was der Alkohol bei mir bewirkte, hatte es bei uns zu Hause einen wohlgefüllten Barschrank gegeben, auch wenn sein Inhalt nach merkwürdigen Gesichtspunkten ausgewählt zu sein schien.
Reinster polnischer Wodka stand da neben Literflaschen von Malibu, Slibowitz vom Balkan tat so, als hätte er das Recht, neben Southern Comfort zu stehen. Unsere Hausbar wusste nichts vom kalten Krieg.
Dad gewann fortwährend Schnaps oder Whisky beim Golf und Mum gelegentlich eine Flasche Sherry oder irgendeinen Damenlikör beim Bridge. Besucher kamen mit allerlei Getränken, die sie im Urlaub gekauft hatten, und unsere Nachbarn hatten uns einmal von Zypern eine Flasche Ouzo mitgebracht.
Der Slibowitz stammte von Dads Sekretärin, die eine Reise hinter den Eisernen Vorhang unternommen hatte (das war 1979, und meine Schwestern und ich hatten sie für unwahrscheinlich tapfer gehalten und nach ihrer Rückkehr nach Strich und Faden ausgefragt, ob sie irgendwelche Verletzungen der Menschenrechte durch die Ungarn miterlebt hatte. »Stimmt es tatsächlich, dass
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