Wassermelone: Roman (German Edition)
weiß wirklich nicht, was ihr jungen Leute habt. Ihr seid einfach faul. Als ich …«
»Dad«, unterbrach ihn Helen scharf. »Erzähl mir bitte nicht wieder, wie du jeden Tag barfuß fünf Kilometer zur Schule laufen musstest. Ich kann das nicht mehr hören. Fahr mich einfach.« Dann warf sie ihm unter ihrem langen schwarzen Pony ein kleines Katzenlächeln zu.
Verzweifelt sah er sie einen Augenblick lang an und brach in Lachen aus. »Na schön«, sagte er und klimperte mit den Autoschlüsseln. »Komm schon.«
Er gab mir Kate zurück, und zwar so, wie man ein Kind zurückgibt.
»Schlaf gut, Kate Nora «, sagte er, wobei er das ›Nora‹ vielleicht eine Spur zu stark betonte. Er hatte mir wohl noch nicht ganz verziehen. Dann ging er mit Helen hinaus.
Meine Mutter, Kate Nora und ich blieben auf dem Bett und genossen die Stille nach Helens Weggang.
»Das war deine erste Lektion, wie man einen Mann behandelt«, sagte ich streng zu Kate. »Du hast sie deiner Tante Helen zu verdanken. Hoffentlich hast du gut aufgepasst. Behandle sie wie Sklaven, dann werden sie sich auch wie Sklaven benehmen.«
Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Meine Mutter lächelte geheimnisvoll. Es war das selbstzufriedene, undurchdringliche und wissende Lächeln einer Frau, deren Mann seit fünfzehn Jahren staubsaugte.
5
U nd jetzt ins Bett. Es war ein ziemlich komisches Gefühl, wieder im selben Bett zu schlafen wie während meiner Jugendjahre. Ich hatte angenommen, dass diese Zeiten auf immer vorbei wären, und ich hätte auf dieses déjà vu ohne Weiteres verzichten können. Es war auch merkwürdig, von meiner Mutter einen Gutenachtkuss zu bekommen, während mein eigenes Kind in seinem Bettchen neben mir lag. Ich war Mutter und merkte auch ohne Sigmund Freud, dass ich mich nach wie vor als Kind fühlte.
Kate sah mit offenen Augen an die Decke. Vermutlich stand sie noch unter dem Schock ihrer Begegnung mit Helen. Zwar war ich ein bisschen besorgt um sie, merkte aber zu meiner Überraschung, dass ich ziemlich müde war. Ich schlief bald ein. Dabei hatte ich gedacht, ich würde überhaupt nicht schlafen können. Nie wieder, meine ich. Gegen zwei Uhr nachts weckte Kate mich sanft, indem sie mit ungefähr einer Million Dezibel schrie. Ich fragte mich, ob sie überhaupt geschlafen hatte. Nachdem ich sie gefüttert hatte, legte ich mich wieder hin. Ich schlief wieder ein, fuhr aber wenige Stunden später entsetzt hoch. Das hatte nichts mit Laura Ashleys üppigen Blumenmustern auf der Tapete, den Vorhängen und dem Bettbezug zu tun, die mich umgaben und die ich in der Dunkelheit undeutlich wahrnehmen konnte. Sondern dass ich in Dublin war und nicht in meiner Londoner Wohnung bei meinem geliebten James.
Ich sah auf die Uhr. Es war (richtig geraten) vier Uhr morgens. Es hätte mich trösten können, dass etwa ein Viertel aller Menschen, die nach Greenwich-Zeit leben, ebenfalls hochgefahren waren, jetzt im Bett lagen, schlecht gelaunt in die Dunkelheit starrten und sich allerlei Fragen stellten, angefangen von »Wird man mir kündigen?« über »Werde ich je einen Menschen kennenlernen, der mich wirklich liebt?« bis »Ob ich wohl schwanger bin?«
Aber das konnte mich nicht trösten, denn ich kam mir vor wie in der Hölle. Mir vorzustellen, in welcher Hölle andere leben, minderte die Qualen meiner eigenen nicht im Geringsten. Tut mir leid, wenn der Vergleich blutrünstig klingt, aber wem man das Bein mit einer verrosteten Metallsäge amputiert, den tröstet es nicht, dass man seinen Zellennachbarn auf den Tisch nagelt.
Ich setzte mich im Dunkeln auf. Kate schlief in ihrem rosa Bettchen friedlich neben mir. Wie die Nachtwächter wachten wir in Schichten. Immer schien mindestens eine von uns beiden wach zu sein. Hier allerdings endete die Ähnlichkeit, denn ich konnte nicht sagen – jedenfalls nicht wirklich ehrlich – : »vier Uhr. Keine besonderen Vorkommnisse.«
Mein Magen hob sich bei der Vorstellung, wie grauenhaft das alles war. Ich konnte nicht glauben, dass ich im Haus meiner Eltern in Dublin und nicht in meiner Londoner Wohnung bei meinem Mann war. Ich musste verrückt gewesen sein abzureisen und James einer anderen Frau zu überlassen. Ich hatte ihn verlassen!
Hatte ich den Verstand verloren? Ich musste zurück, um ihn kämpfen! Ich musste ihn zurückerobern!
Wie war ich bloß hierhergekommen? Ich war falsch abgebogen und in ein anderes Universum gelangt, wo zwar alles wie in meinem Leben aussah, aber böse, schlimm und
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