Wassermelone: Roman (German Edition)
Augen.
Während ich darauf wartete, dass sich mein Atem wieder beruhigte und der Schweiß auf meiner Stirn trocknete, fragte ich mich, wie wohl andere Eltern mit ihrer Aufgabe fertigwurden. Wie konnten sie ihre Kinder aus dem Haus lassen und sie mit anderen Kindern spielen lassen? Packte sie nicht jedes Mal unbeschreibliche Angst, wenn sie länger als fünf Minuten von ihrem Kind getrennt waren? Mir fiel es jetzt schon schwer genug. Wie zum Teufel sollte ich das erst schaffen, wenn sie in die Schule musste? Niemand durfte von mir erwarten, dass ich sie einfach so im Stich ließ. Man würde mir schon erlauben müssen, hinten im Klassenzimmer zu sitzen.
Jetzt brauchte ich wirklich etwas zu trinken. Vielleicht war Anna zu Hause. Ich schleppte mich zu ihrem Zimmer hinüber und öffnete leise die Tür. Dunst stieg mir in die Nase, als ich sie knapp drei Zentimeter geöffnet hatte. Alkoholdunst.
Na bitte! Gott sei Dank, dachte ich. Offensichtlich war ich bei der richtigen Stelle gelandet.
Anna lag zusammengerollt im Bett, das lange schwarze Haar um sich herum ausgebreitet. Neben ihr auf dem Kissen lag etwas, das aussah wie eine Big-Mac-Schachtel.
»Anna«, flüsterte ich laut und schüttelte sie ein bisschen. Keine Reaktion.
»Anna«, flüsterte ich, diesmal deutlich lauter, und schüttelte sie heftig an der Schulter.
Ich schaltete ihre Nachttischlampe ein und leuchtete ihr damit im Gestapo-Stil ins Gesicht. Aufwachen! Sie öffnete die Augen und sah mich an.
»Claire?«, krächzte sie ungläubig. Sie schien richtig Angst zu haben, als glaubte sie, sie halluziniere.
Bei Anna war das auch durchaus möglich. Ich meine, dass sie halluzinierte. Sie stand auf bewusstseinserweiternde Substanzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Die Arme. Soweit sie wusste, war ich über sechshundert Kilometer entfernt in einer anderen Stadt und einem anderen Leben. Aber hier erschien ich ihr mitten in der Nacht in ihrem Schlafzimmer. Um sie anzuschnorren, was die Sache noch schlimmer machte.
»Anna, tut mir leid, dich zu stören, aber hast du was zu trinken?« , fragte ich. Sie sah mich einfach nur an.
»Was willst du hier?«, fragte sie mit verängstigter Stimme.
»Ich such was zu trinken«, sagte ich verzweifelt.
»Hast du eine Botschaft für mich?«, fragte sie und sah mich nach wie vor mit großen Augen an. Großer Gott, dachte ich ärgerlich.
Anna war eine Anhängerin des Okkultismus. Nichts wäre ihr lieber gewesen, als vom Teufel besessen zu sein, in einem Spukhaus zu leben oder Katastrophen voraussagen zu können. Offenbar hoffte sie, dass ich irgendeine Art paranormaler Erscheinung war. Entweder das, oder sie war noch betrunkener als sonst.
Am liebsten hätte ich ihr etwas Schreckliches erzählt. Etwa so: »Anna, hüte dich! Es wird eine Missernte geben« oder »Anna, hüte dich! (Das ›Hüte dich‹ ist sehr wichtig.) Dein Eimer leckt, und du wirst die Milch verlieren, die du zum Markt trägst« oder »Anna, hüte dich, die Zweige des Weißdorns abzuschneiden.«
Dabei spielte es nicht die geringste Rolle, dass Anna weder eine Ernte erwartete noch Milch in einem leckenden Eimer zum Markt zu tragen hatte. Auch wuchs im Umkreis von fünfzehn Kilometern kein Weißdorn – trotzdem wäre sie mit ihrer übernatürlichen Heimsuchung mehr als glücklich gewesen.
»Ja, Anna«, sagte ich, um ihr den Gefallen zu tun, wobei ich mir gleich ein wenig blöd vorkam, »sie haben mich geschickt. Wo ist der Alkohol? Ich soll ihn holen.«
»In meinem Rucksack«, sagte sie schwach. Er lag auf dem Boden, zusammen mit einem Schuh (was war mit dem anderen?), ihrem Mantel, einer Schachtel, in der sich noch ein paar Pommes und eine Dose Budweiser befanden. Ich hatte Schwierigkeiten, den Rucksack zu öffnen, weil an der Kordel zwei Helium-Ballons befestigt waren. Offensichtlich war Anna bei irgendeiner Party gewesen. Fast hätte ich vor Erleichterung geweint, als ich eine Flasche Weißwein entdeckte.
»Danke, Anna«, sagte ich. »Ich geb’s dir morgen wieder.« Dann ging ich. Sie sah immer noch benommen und verängstigt drein und nickte verständnislos. »In Ordnung«, brachte sie heraus.
Ich sah nach Kate. Sie schlief nach wie vor friedlich. Ich hatte zwar fast damit gerechnet, dass sie mit verschränkten Armen in ihrem Bettchen sitzen und mich fragen würde, wo denn der Vater sei, den ich ihr versprochen hatte. Aber sie schlief. Wahrscheinlich kamen in ihren Säuglingsträumen rosa Wolken, warme Betten und weiche Menschen vor, die
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