Wassermusik
ist das Schlimmste – die zuckenden Augenlider, die sich krampfhaft ballenden Fäuste der Leiche auf dem Tisch. Er öffnet den Mund, der Zeigestock fällt zu Boden. Mit dem glasklaren, gedankenlosen Instinkt eines gehetzten Tiers taumelt er zurück, dreht sich um und rennt auf die Tür zu.
«Halt! Halt! Halt!» brüllt Abernathy, setzt über das Geländer und landet wie ein Geriatrie-Akrobat. «Der lebt ja noch! Der Kerl da lebt! So stillen Sie doch die Blutung, Mann!»
Als erster findet Quiddle die Fassung wieder. Leichen erwachen nicht einfach zum Leben, sagt er sich. Vampire, Zombies, Ghoule … aber hier verblutet ein Patient. Keine Zeit für Grübeleien, Überraschung, Schreck – seine Finger liegen auf der Wunde, pressen die zertrennten Gefäße zusammen, und nun springen ihm Abernathy und Delp zur Seite, sie beben vor Anspannung, rufen nach Abbindung und Kauterisation.
Auf den Zuschauerbänken überwindet man den Schock nicht so rasch. Freischütz liegt in tiefster Ohnmacht, die Leidener Studenten haben sich unter den Sitzen verkrochen, die feinen Herren sind auf den Beinen, ungestüm und unsicher wie Pferde in einem brennenden Stall. Die Lady neben ihnen sitzt wie angewurzelt da, ihre Augen glänzen vor Entsetzen und Verständnislosigkeit. Doch dann tritt ein neuer Ausdruck auf ihr Gesicht, eine feste, freudige Miene. Still und ehrfürchtig fällt sie auf die Knie und faltet die Hände zum Gebet. «Gelobt sei der Herr», sagt sie leise. «Ein Wunder ist geschehen.»
Vorne, inmitten des Wirrwarrs rund um den Seziertisch aus Schiefer – Hände und Instrumente und heiser gekeuchte Kommandos –, hebt Ned Rise den Kopf und öffnet die Augen zur Auferstehung, zu den huschenden Lichtern und den Farben des Lebens.
VOM LOTOS GEKOSTET
«Wir dachten, Sie wären tot.»
«Stimmt, alter Junge, das muß ich leider sagen.»
«Naja, ich meine, zwei Jahre lang keine Nachricht – und dann diese Schreckensmeldung von Laidley über Ihre Gefangennahme durch die Mauren … Sagen Sie mal, ganz im Vertrauen, bumsen die tatsächlich ihre Frauen von hinten?»
Noch ein Empfang, noch eine Runde Drinks, noch eineReihe von Gesichtern. Soweit der Entdeckungsreisende mitgezählt hat, ist es das zwanzigste Gelage, das ihm zu Ehren stattfindet, seit er vor einem Monat zurückkam – oder das einundzwanzigste? Das Tempo schafft einen. Macht aber Spaß. Er fährt von einem Vortrag zum nächsten, von einem Salon in den anderen. Einmal trifft er eine Gräfin, am nächsten Abend einen Earl. Mungo Park, Sohn eines kleinen Pachtbauern, auf du und du mit den Mächtigen im Lande – dabei ist er noch keine siebenundzwanzig. Es steigt zu Kopfe. das kann man sagen.
St. James Place 12
Die Baronesse von Kalibzo bittet um Ihre geschätzte
Anwesenheit bei einem Empfang für
Mr. Mungo Park,
den geographischen Erheller und Entdecker
des Nigerflusses.
28. Januar 1798
9 Uhr abends
Sir Joseph, der für solche Veranstaltungen wenig übrig hat, hat ihn vor der Baronesse gewarnt. Zwar sei sie eine leibliche Base des Königs und in ihrem Heimatlande von höchstem Rang und Geblüt, doch habe sie in London den Ruf einer gewissen Anstößigkeit. Sir Joseph verlautete nicht mehr, als daß sie sich «diverser Exzesse schuldig» gemacht habe, und riet dem Entdeckungsreisenden, die Einladung abzulehnen. Als sich jedoch herausstellte, daß Mungo dort der Ehrengast war, fand auch Sir Joseph, er solle hingehen, wenn auch nur für ein paar Stunden.
Und da ist er nun, aalt sich in den Schmeicheleien von gesellschaftlich Höherstehenden, nippt an seinem vierten Glas Wein, knabbert Kekse, die mit russischem Kaviar bestrichen sind, und hat das deutliche Gefühl, daß die Weltnicht besser sein könnte. Mohrendiener in Perücken und Cluny-Spitzen huschen umher, barbrüstige Statuen und Porträts von Bonifacio Veronese, Tizian und Fra Bartolommeo säumen die Wände, ein neunköpfiges Orchester sorgt für gedämpfte Atmosphäre. Und sobald er den Mund aufmacht, umringen ihn überdies sofort Leute in festlicher Garderobe. Ist das nun das Paradies, oder was?
Momentan haben ihn Sir Ralph Sotheby-Harp und zwei weitere wohlhabende Gönner der Afrika-Gesellschaft neben einem eingetopften Farn in die Ecke gedrängt. Sie sind erregt, ihre Gesichter glühen in der Hitze des reinen, selbstlosen Forscherdrangs, indem sie ihn über Details bezüglich der sexuellen Vorlieben der verschiedenen Stämme bestürmen, und der
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