Wassermusik
Zunge ist trocken. Sein Gaumen ist trocken. Sein Zäpfchen. Er braucht unbedingt etwas zu trinken. Wasser. Eis. Blut. Tasse Tee. Glas Milch. Krug Bier. Auf Zehenspitzen geht er zum Zelteingang und späht hinaus. Die drei Wachen schlafen, mümmeln an ihren Bärten und schnarchen wie besoffene Lords. Aber jetzt kommt der Haken: Sie liegen quer vor dem Eingang ausgestreckt, Schulter an Schulter, der erste direkt an der Zeltklappe. Er müßte einen Weitsprung über alle drei Männer machen, um freizukommen – und selbst wenn ihm dies gelänge, hätte er immer noch das Problem des dumpfen Aufpralls. Beim leisesten Geräusch wären die doch wie ausgehungerte Wölfe auf den Beinen, Flüche auf den Lippen und die Faust am Dolch. Er zögert.
Doch dann, Wunder über Wunder, rollt sich der mittlere herum und legt mehrere Zentimeter Boden frei. Jetzt oder nie. Der Entdeckungsreisende schlüpft aus den Stiefeln, holt tief Atem und steigt über den ersten Mann. Die Luft ist unbewegt. Irgendwo schreit ein Vogel. Doch der Wächter schläft röchelnd weiter, schmatzt mit den Lippen, zuckt mit den Lidern. Mungo verlagert das Gewicht auf den vorderen Fuß und schwingt gerade das linke Bein nach vorn, als ihm plötzlich leicht schwindlig wird, und plötzlich sieht er aus unerfindlichen Gründen das Bild des Hochseilartisten auf der Bartholomew Fair vor sich. Das war vor vielen Jahren. Als kleiner Junge stand der Entdeckungsreisende damals in der Menge, im Arm einen Teddybären, und sah zu, wie der Mann sich in sechzig Meter Höhe den Draht entlangtastete. Der Seiltänzer balancierte gerade in der einen Hand eine lange Stange und jonglierte mit der anderen ein halbes Dutzend Äpfel, als eine Taube sich auf der Spitze der Stange niederließ. Der Mann stürzte ab.
Mungo blinzelt und stellt fest, daß er nun auf dem Brustkasten des ersten Wächters sitzt. Der knurrt, zäh wie Sirup, etwas auf arabisch und fängt an, die Hand des Entdeckungsreisenden an seiner stoppligen Wange zu reiben. Das Gefühl ist, in Anbetracht der Umstände, keineswegs unangenehm.
«Yummah»
, stöhnt der Wächter, leidenschaftlich wie ein Liebhaber,
«yibbah!»
Doch schließlich läßt er die Hand wieder los und dämmert in einen röchelnden Schlaf hinüber, während Mungo sich in die Nacht davonstiehlt.
Seit über einem Monat ist der Entdeckungsreisende nun Gefangener der Mauren. Man hat ihm Einzelhaft verordnet. Sein Pferd und sein Gepäck wurden eingezogen. Eines Verbrechens wird er nicht angeklagt. Die Frage, ob man ihm die Augen ausstechen sollte, ist Allah sei Dank einstweilenaufgeschoben. Offenbar hat Fatima, Alis Hauptfrau, aus Dihna wissen lassen, sie wolle die Mißgeburt intakt begutachten – samt bösem Blick und allem. (In London strömt das Volk zusammen, um die menschliche Raupe und den Mann mit drei Nasen zu sehen; in Ludamar sind es Albino-Mutanten.) Trotzdem ist das Leben für den Entdeckungsreisenden keineswegs idyllisch. Er wird gegen seinen Willen festgehalten, als Ungläubiger belästigt, mit Tod und Verstümmelung bedroht, ausgehungert, gepiesackt, gequält, gelangweilt, und man verweigert ihm Gespräch, intellektuelle Anregung und Wasser. Und seinen Dolmetscher hat er seit einer Woche nicht zu Gesicht bekommen. Beim letztenmal hatte Johnson seine Zunge – scharf wie immer – noch im Mund. Ali empfand den Lappen aus Muskel und Fettgewebe nämlich als Conditio sine qua non, wenn er den Entdeckungsreisenden über die Mysterien seiner Kleidung und Habseligkeiten ausfragte: Schuhe und Strümpfe, die Knöpfe an Rock und Hose, Kompaß, Uhr und Rasiermesser. «Wie funktioniert das hier? Und das?» wollte Ali wissen, wobei er seine Fragen an Johnson richtete, seine verdrossenen dunklen Augen jedoch Mungos Gesicht fixierten. Schließlich ließ er den Entdeckungsreisenden seine Kleider siebenunddreißigmal aus- und wieder anziehen, so daß immer neue Schaulustige deren sinnreiche Konstruktionen bestaunen konnten. Nach der siebenunddreißigsten Demonstration drückte Ali erstmals seine Neugierde darüber aus, was Mungo überhaupt in den Sahel getrieben habe: wenn er kein Händler sei, müsse er wohl ein Spion sein. «Ich suche den Nigerfluß», erklärte ihm Mungo. Ali musterte eine Zeitlang seinen großen Zeh und blickte dann auf. «Aha, in deinem Land gibt’s also keine Flüsse?»
Am Fuß eines sanften Abhangs – kaum dreihundert Meter vom Lager entfernt – liegen die Brunnen. Mungo hört dieRinder brüllen, die sich für die
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