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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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alle Berge, bis sie im Schlafzimmer sind. Als die Wohnungstür splitternd nachgibt, hat der junge Erbe, bis an die Zähne bewaffnet, ein blitzartiges Erlebnis des Wiedererkennens, während er dem erschreckt auffahrenden Leichenräuber direkt in die Augen sieht.Keine fünf Meter entfernt. Er sieht ihn durch den Türrahmen im Hinterzimmer, unter der Bettdecke. Schon legt sich auf Ospreys Gesicht ein boshaftes, rachedurstiges Lächeln, da dreht sich Ned einfach im Bett herum und ist verschwunden. Eben war er noch da, in Fleisch und Blut, dann löst er sich in Luft auf, ein Taschenspielertrick, so wie eine Ringelnatter in einer Steinmauer verschwindet.
    Für solche Fälle hat nämlich Ned Vorkehrungen getroffen. Als er das bescheidene Appartement gemietet hat, nahm er auch die kleine Kammer direkt darunter mit dazu – ein Zimmer, kaum größer als ein Schrank   –, wobei er dem Wirt der «Meerjungfrau» erklärte, er sei Handlungsreisender und brauche den Extraraum zum Lagern seiner Waren. Der Wirt sagte, es sei ihm scheißegal, wer er sei und was er mit seinen Zimmern mache, solange nur nichts kaputt gehe und er die Miete pünktlich zahle. Ned lächelte und legte das Geld für die erste Woche im voraus auf den Tisch. Dann lieh er sich Delps Knochensäge aus, wartete ab, bis eine frische Besatzung von Teerjacken unten in der Kneipe saß und mit dem Saufen, Johlen, Gläserklirren und Absingen von Matrosen-Shanties anfing, und schnitt ein sauberes, rundes Loch in den Boden seines Schlafzimmers. Das Loch hatte direkte Verbindung mit der Kammer darunter. Es dauerte nur eine Minute, das Bett darüberzuschieben und so seine kleine Freizeitarbeit zu verbergen. Zieht man zudem in Betracht, daß Ned immer in voller Kleidung schlief und dabei seine Ersparnisse in einem Strumpf um den Hals gebunden trug, ist es leicht begreiflich, wie er seinen vermeintlichen Häschern entkommen konnte.
    Fürs erste jedenfalls.
    Denn Osprey ließ sich nicht so leicht entmutigen. Er schien durchaus bereit, den Nachttopfhandel in den Händen von Untergebenen verkommen zu lassen, während er sein vordringliches Ziel zum Abschluß brachte. DieSchmach, die man den Überresten seines Vaters angetan hatte, wäre ihm schon Grund genug gewesen, die Übeltäter bis ans Ende der Welt zu jagen, doch da nun noch seine eigene Schmach hinzugekommen war, betrachtete er schon die Existenz dieser Diebe, Leichenräuber und Grabfrevler als unerträglich, als Schande für die Gesellschaft, die ihn persönlich wurmte, und ihre Ausrottung nahm für ihn den Charakter einer heiligen Mission an. Zäh und unermüdlich machte er weiter, er gierte nach Rache, den Mund voll bitterer Galle, in seinen Träumen triefte das Blut.
    Als ersten erwischte es Quiddle. Er wurde im St.   Bartholomew’s verhaftet, ins Gefängnis geworfen, angeklagt und schließlich gehängt. Der einzige Beweis gegen ihn war eine Aussage von Osprey junior. Das genügte. Delp stritt natürlich alles ab. Bei der Hinrichtung war er dennoch anwesend – Quiddle hatte nämlich keine Angehörigen. In einer menschlichen Geste, die fast alle Zuschauer tief rührte, trat er nach der Exekution vor und verkündete, er selbst wolle sich um den Toten kümmern.
    Boyles stand auf einem ganz anderen Blatt. Zwar war er nicht eben der Schlauste, außerdem die meiste Zeit über betrunken; doch wo er sich jeweils aufhielt, ließ sich schwer sagen. Er hatte keine feste Bleibe. Keine Freunde. Keine Arbeit. Keine Perspektive. Er schlief in Hauseingängen, Küchen, Gin-Schänken. Osprey heuerte ein Dutzend Männer an, um die Seitengassen und Kneipen in der Umgebung des Krankenhauses zu überwachen und auch in Limehouse die Augen offenzuhalten. Aber umsonst: Ned Rise fand ihn zuerst. Billy lag unten am Hermitage Dock, genoß den Sonnenschein und sah zu, wie eine Schar von mageren Jungen in der Themse badete, Meeresvögel vom Himmel herabstießen und Dreimaster im Wind standen wie große weiße Schwäne. Er hatte eine Zitrone, eine Kartoffel und eine Flasche Gin bei sich, an denen er abwechselnd gemächlich lutschte – erst Gin, dann Zitrone und schließlichKartoffel. Als Ned den wohlbekannten Plattkopf und den zerlumpten Mantel entdeckte, durchlief ihn ein Schauer der Erleichterung. Er ließ sich nieder, und Boyles wandte ihm die glitzernden grünen Augen und die lange Nase zu. «Neddy! Was gibt’s? Wieder so ein Job?»
    «Wir sind in Schwierigkeiten, Billy.»
    Boyles wollte nichts davon hören. Er blickte über die graue

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