Wassermusik
Zelle kriecht und einem den Tod in die Ohren flüstert. Ned hat es eilig. Zittert vor Kälte und denkt nur daran, sich die Leiche zu greifen, irgendwo zu verstecken und dann eine Kneipe zu suchen, wo sie für einen Viertelpenny auf dem Boden schlafen dürfen; dabei stellt er sich schon vor, wie Bluestone, der Chirurg, ihm die Banknoten hinblättert, und wie sie morgen um diese Zeitsattgegessen in einem warmen Bett liegen werden. Osprey? Er versucht, nicht an ihn zu denken, man muß die Angst ja rationalisieren – wie könnte denn irgendwer, sogar der Teufel selber, einen derartigen Groll hegen, daß er noch acht Monate später in eisiger Nacht auf einem Friedhof lauert? Nein, an Ospreys Stelle läge er jetzt im Bett, mit einer Frau zum Wärmen und einem lustig flackernden Feuerchen im Kamin …
Plötzlich hört er ein Quietschen hinter sich und wirbelt herum, sprungbereit wie eine Katze, bevor ihm klar wird, daß es nur Boyles war, der am Tor hängengeblieben ist. Er wartet, bis sein Komplize aus dem Schatten herbeitrottet, und bedeutet ihm zu warten. Dann huscht er davon, der kurze Schreck hat ihn aus den entrückten Gedanken gerissen, Blut und Adrenalin strömen wieder frisch, sein Herz stampft wie eine Maschine. Nach fünf Minuten hat er den Sarg geortet; die Kiste aus rohen Kiefernbrettern steht zwischen zwei Graumarkierungen am hinteren Ende des Friedhofs. Er kauert sich nieder und wartet volle sechzig Sekunden ab, während der Wind in den kahlen Bäumen heult, der Frost ihm die Beine hinaufkriecht, dann geht er los.
Aber da ist noch ein Geräusch – da vorne links, ein Flattern oder Klatschen wie Wäsche auf der Leine. Er zögert, sein ganzer Instinkt schreit
Paß auf, paß auf!
, die Kälte treibt ihn weiter, flüstert ihm zu, alles in Ordnung, hol dir die Leiche, dann ab ins Warme, bleib am Leben. Zögernd macht er einen Schritt vorwärts. Da ist es wieder. Klatsch, flapp. Hier ist etwas faul. Mörderisch faul. Tief gebückt wendet er sich nach links, atmet ganz flach, sein Herz rast, jeder Muskel spannt sich eng an den Knochen.
Das Geräusch nimmt an Intensität zu, je näher er kommt, sein Rhythmus hebt und senkt sich mit dem sausenden Wind. Schaudernd stellt er sich ein Heer von Toten vor, das sich schweigend aus den Gräbern erhebt, im Windflatternde Leichentücher, knochige Hände, in stummem Flehen ausgestreckt. Aber nein, es muß eine vernünftige Erklärung geben … Er tritt noch näher,
klatsch, flapp
. Da: das Geräusch scheint von dem großen dunklen Schatten dort vorn herzurühren – offenbar ein Mausoleum, oder? Ja, es ist ein Mausoleum, das da rechteckig und massig über den düsteren Reihen der Grabsteine aufragt wie das Tor zur Unterwelt. Er geht ganz nahe heran und bemerkt entsetzt, daß das ganze Gebilde sich bewegt, mit dem leisen, sanften Schwappen einer ruhigen See hin und her schlägt. Da er im Dunkeln kaum etwas sieht, faßt er hin – und hat auf einmal eine Stoffbahn in der Hand. Merkwürdig. Jemand hat das ganze Ding mit schwarzem Musselin verhängt. In memoriam? Irgendein reicher Pinkel vielleicht?
Es bleibt keine Zeit, darüber zu rätseln. Die Kälte macht sich wieder bemerkbar, und da seine Neugier befriedigt ist, will er gerade wieder sein Vorhaben aufnehmen, als ein weitaus nervenzerrüttenderes Geräusch ihn wie eine eiserne Faust packt und jeden seiner Muskeln erstarren läßt. Undeutliche, gedämpfte Stimmen – aus dem Innern des Grabmals! Das ist zuviel. Trotz seiner großen Erfahrung mit nächtlichen Friedhöfen möchte er sich am liebsten anpissen, die Beine in die Hand nehmen und zurück unter die Blackfriars Bridge kriechen, um sich dort niederzulegen und den Erfrierungstod zu sterben. Doch dann hebt eine jähe Bö den Stoff etwas an, und ein Lichtstrahl zerteilt die Finsternis. Eine neue Furcht überkommt ihn, wesentlich schrecklicher als jeder Gedanke an Kobolde und Gespenster. Sie läßt seine Finger zittern. Langsam begreift er.
Vorsichtig, ganz vorsichtig schlüpft er unter das schwarze Tuch und tastet sich zu der steinernen Tür, die in das Grabmal führt. Sie steht einen winzigen Spalt offen. Er legt das Auge an den Schlitz.
Drinnen sitzen drei Männer in Pelzmänteln beimschummrigen Licht einer Öllampe um den Sarg herum und spielen Karten. Ihre Füße liegen auf eisernen Wärmflaschen; dunstiger Atem schwebt in Wolken vor ihren Mündern. Die Sicht ist Ned teilweise durch den Rücken des ihm am nächsten sitzenden Mannes versperrt, doch als
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