Wassermusik
dieser sich vorbeugt, um sein Blatt zu begutachten, sieht Ned zu seinem Schrecken, daß der Kartenspieler ganz hinten Osprey ist. Plötzlich wirft Osprey sein Blatt auf den Tisch. «Sollten Sie nicht wieder einmal Ihre Runde gehen, Mr. Crump?» sagt er zu der Gestalt, die Ned den Rücken kehrt.
«Ach, komm Se, Claude. In so ’ner Nacht wie heute tut doch keiner ins Freie nich rausgehn, nich mal der Teufel un seine Großmutter.»
Das Licht der Lampe fängt sich in Ospreys Augen, bis sie in übernatürlichem Licht zu erstrahlen scheinen. Er seufzt und zieht wie von ungefähr eine Pistole aus dem Mantel. «Ich sagte: sollten Sie nicht wieder einmal Ihre Runde gehen, Mr. Crump?»
Am Friedhofstor legt Ned Boyles die eine Hand vor den Mund, die andere packt seine Schulter. Im Laufschritt führt er ihn hinaus und rennt in eine Seitenstraße. Drei Blocks später bleibt Boyles außer Atem stehen und reißt seinen Freund am Arm herum. «Was’n bloß los, Neddy? Wohin wolln wir denn?»
Neds Gesicht liegt in tiefem Schatten. Seine Stimme ist rauh, heiser vor Kälte, verzerrt durch den Schal, den er über Mund und Nase gezogen hat. «Nach Hertford», gibt er zurück.
«Hertford?» Boyles sperrt den Mund auf. «Aber das is doch gar nich mehr in London, oder?»
In einem Fenster weiter oben geht Licht an und wirft einen fahlen Schein auf Neds Gesicht. Seine Miene ist so finster und grimmig, daß Boyles zurückweicht, aber Nedpackt seinen Gefährten am Mantel und zieht ihn dicht heran. Seine Stimme ist jetzt deutlich, unmißverständlich. «Stimmt genau», zischt er.
IMAGINÄRER KÄSE
Ned wandte London den Rücken, ohne es sich zweimal zu überlegen. Man schrieb den Winter 1802, und er war einunddreißig Jahre alt. Er war müde. Einunddreißig Jahre lang war er durch den Dreck und Kot der Straßen gekrochen, einunddreißig Jahre lang hatte er sich die Knöchel zerschunden, und jedesmal war die Leiter unter ihm weggerissen worden, wenn er es einmal eine Sprosse höher hinauf geschafft hatte. Einunddreißig Jahre lang Qualen und Entwürdigung, Vorurteile, Kränkungen und grausame, unerhörte Strafen, gemildert nur durch Barrenboynes Güte und die wenigen kostbaren Monate, die er mit Fanny verlebt hatte. Doch jetzt, nach all diesen elenden Jahren, all den düsteren, sinnlosen Jahren, die nacheinander aus ihm herausgezerrt worden waren wie tief ins Fleisch gerammte Splitter, ging es ihm nicht besser als damals, als Barrenboyne ihn zu sich genommen hatte. Er war pleite. Er hatte keine Unterkunft, keine Besitztümer, keine Familie. Was seine Freunde betraf, so nahm er sie alle mit: in der plattköpfigen, schmalbrüstigen Person von Billy Boyles, einem schwachsinnigen Säufer. Quiddle war tot, Fanny verschwunden, Shem und Liam steckten bis über die Ohren in Fischköpfen und Schuppen irgendwo am anderen Flußufer – und er hatte sie sowieso seit viereinhalb Jahren nicht mehr gesehen. Der Rest war eine gesichtslose Masse, hart wie Stein, jederzeit bereit, einem die Kleider vom Leib zu reißen, wenn man hilflos im Sterben lag, oder einen auf der Straße mit Zweispännern und Landauern über den Haufen zu fahren. Und wenn es keine Fremden waren, dann waren es seine Todfeinde. Banks, Mendoza,Smirke, Brummell, Delp und der erbittertste von allen, Osprey. Orestes hätte es nicht schlimmer haben können.
Also zogen sie nach Hertford. Aufs Land. Wie Boyles war auch Ned noch nie aus London herausgekommen und hatte keine Ahnung, was ihn dort erwartete. Er hatte eine vage Vision von großen Käselaiben, von dicken, mit Butter und Honig reichlich bestrichenen Scheiben frischgebackenen Brotes, von wiederkäuenden Kühen und träge plätschernden Regenschauern auf strohgedeckten Dächern. Er und Billy würden sich als Feldarbeiter oder Schafhirten oder so verdingen. Die frische Luft würde ihnen guttun.
Jenseits all dieser Überlegungen trat ein weiterer Faktor in die Gleichung ein: Fanny. Sie war in Hertfordshire geboren und aufgewachsen, hatte als Milchmädchen bei einem gewissen Gutsherrn, dem Squire Trelawney, gearbeitet. Ned wollte ihre Familie aufsuchen. Vielleicht hatten die etwas von ihr gehört oder wußten, wo sie zu finden war. Nach viereinhalb Jahren Herumstöbern in Londons Straßen war er mit seinem Latein am Ende. In der Stadt war sie nicht, soweit er es feststellen konnte, und wegen der hartnäckigen Verfolgung durch Osprey fand er keine Möglichkeit, genug Geld aufzutreiben, um aufs Festland zu fahren. Brooks’
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