Wassermusik
Gischt wie Napoleon über den Ärmelkanal. «Guck mal, wie die Möwen da oben inner Luft hängen tun, wie wenn einer ’n Kasperletheater im Himmel abzieht», brummelte er. Im Nasenloch klebte ihm ein Stück Zitrone.
«Sie haben Quiddle erwischt.»
«Wer hat’n erwischt?»
«Osprey.»
Boyles verzog keine Miene. Unschuldig wie ein Baby sah er Ned an.
«Der Kerl, den wir uns vor zwei Tagen gegriffen haben – der Nachttopf-König.»
Boyles machte ein langes Gesicht. Ihm wurde sichtlich unwohl, als hätte die Erinnerung an den heißblütigen jungen Erben ihn plötzlich in schweres Fahrwasser gebracht oder die Kartoffel in seinem Bauch mit Magensäure überspült.
«Sie werden ihn hängen, Billy.»
Boyles verarbeitete diese Information mit demselben halb nachdenklichen, halb galligen Gesichtsausdruck. Er erbleichte mehr und mehr und schlug unbeholfen die Hand vor den Mund. Dann erbrach er das ganze Gemisch aus Kartoffel, Zitrone und Gin über die Planken des Docks.
Ned nahm ihm die Flasche weg und schleuderte sie in den Fluß. «Los, komm, Billy», sagte er. «Steh auf. Sehn wir zu, daß wir verduften.»
Das war im Sommer, als die Tage noch lang und die Nächte mild wie eine Mutterbrust waren.
Inzwischen haben sie zwei Wintermonate und Silvester hinter sich, und die Lage wird prekär. Zum ersten ist ihnen das Geld ausgegangen. Boyles hatte gerade noch sechs Shilling bei sich, als sie beschlossen, sich abzusetzen, und Neds vierundsiebzig Pfund (ein Betrag, der größtenteils aus dem Verkauf der Überreste von Osprey senior auf dem freien Markt und aus der Aneignung der Brieftasche und anderer Wertgegenstände des Osprey junior stammte) sind durch die ständigen Übernachtungen während ihrer Flucht ebenfalls aufgebraucht. Zum zweiten hat sich das Wetter gegen sie gewandt. Eine Kaltfront dringt von der Nordsee her mit furchterregender Macht herein, bringt Fundamente zum Bersten, legt eine dicke Eisschicht über die Themse und trägt Schüttelfrost, Pneumonie und Grippe mit sich. Während die Möwen wie Steine vom Himmel plumpsen und Ackergäule in ihren Ställen steif werden und verenden, müssen Rise und Boyles sich mit kalter Hafergrütze und Strohlagern zufriedengeben. Am schlimmsten aber ist, daß Osprey seine Jagd keineswegs abgeblasen hat, sondern sie in jedem Loch aufstöbert, das sie mit Müh und Not erreichen, ein wildes, blutrünstiges Gebell in ihrem Rücken veranstaltet, das ihnen die Verdauung ruiniert und den Seelenfrieden raubt, sie hinter jedem Gebüsch den Klabautermann erwarten und in jeder Straßenlampe einen Galgen sehen läßt.
Momentan kauern sie über einem Feuer unter der Blackfriars Bridge, kläglich und dick vermummt, aus den Nasen rinnt ihnen der Rotz, ihre Füße sind taub, der Magen knurrt. So sitzen sie fast eine Stunde, schlingen die Arme um den Körper und starren in die Glut, bis Ned sich dem Gefährten zuwendet und ihm etwas ins Ohr flüstert. Rings um das Feuerchen bibbern noch zehn andere Landstreicher. Keiner macht sich die Mühe, auch nur aufzublicken. Draußen auf dem Fluß stöhnen die Eisschollen wie ein Chor der Ertrunkenen.
«Auf dem Friedhof von St. Paul’s wird heut abend ’ne Frau begraben», sagt Ned.
«Was’n, bei dem Bodenfrost?»
Ned grinst. «Na, da haben wir’s um so leichter, begreifst du nicht? Die lassen sie doch einfach ein paar Tage lang über der Grabstelle liegen, bis die Totengräber das Loch für sie ausheben können.»
Boyles läuft die Nase. Seine Augen liegen tief in den Höhlen wie zwei fieberkranke Nagetiere, die sich in ihrem Bau verkriechen. Seine Stimme klingt vorwurfsvoll. «Du hast mich da reingezogen, Neddy.»
«Stimmt nicht, das war Crump.»
Boyles wendet sich zum Feuer, macht sorgfältig beide Nasenlöcher frei und läßt sich den Gedanken ein paar Minuten lang durch die vom Gin beeinträchtigten Hirnwindungen gehen. «Naja, ’n Pott Glühwein wär sicher kein Schaden nich, und ’ne heiße Suppe schon gar nich», sagt er verschnupft. «Hätt auch nix dagegen, die Nacht auf ner Bank in irgendso’ner Pinte zu pennen.» Er hustet einen Klumpen weißen Schleim aus. «Aber könn’ wir das denn riskiern?»
«Scheiß drauf. Wir frieren uns tot, wenn wir’s nicht tun.»
Es ist drei Uhr früh vorbei, als sie auf den Friedhof schleichen. Der Nachthimmel ist ein brodelnder Wolkenkessel, weiß und schwarz mit hundert Grauschattierungen. Der Wind pfeift, und die Kälte ist von jener abstumpfenden nagenden Art, die in jede
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