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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Crowns.»
    «Hilfe!» brüllt Osprey. «Ein Mörder! Hilfe!»
    «Is ja gut, is ja gut.» Mit einer einzigen geübten Bewegung zieht der Junge ein Messer aus dem zerfetzten Ärmel, und die Hanfstricke fallen zu Boden. Osprey setzt sich auf und befreit seine Füße, dann streckt er die Hand aus. Der Junge hilft ihm auf die Beine. «Idiot!» zischt der junge Erbe und stößt den Jungen gegen die Wand. Dann rennt er aus der Gasse hinaus und ruft nach einer Droschke.
     
    In Cheapside kommen sie aus dem Staunen nicht heraus. Fallen fast vom Hocker. «Aber, aber   … warum würde denn jemand so etwas tun wollen?» stottert der Onkel.
    «Das Grab!» schreit Osprey.
    Man ruft die Behörden. Den Pfarrer. Die Cousine mit den Pechseeaugen. Die Tanten und Onkel. Die Schwippschwäger. Als die Erde des Grabes ausgehoben wird und der Sarg zum Vorschein kommt, ertönt ein erleichterter Seufzer. «Öffnet ihn!» ruft der Erbe. «Öffnet ihn!» beharrt er trotz des geraunten Protestes. Der Totengräber hebelt den Deckel auf. Der Sarg ist leer. Jemand schnappt nach Luft. Andere fallen in Ohnmacht. Am Nachmittag wird in der ganzen Stadt ein Handzettel verteilt:
     
    Claude M.   Osprey jun. bietet eine Belohnung von
£ 100
für zweckdienliche Auskünfte, die zur Ergreifung jener drei Männer, darunter eines Einbeinigen, führen, welche in der Nacht des 9.   Juni auf dem Friedhof von St.   Paul’s einen schändlichen Akt der Verderbtheit gegen Gott und Natur begangen haben. Alle Auskünfte werden vertraulich behandelt. Great Wood St., Cheapside
.
     
    Siebenunddreißig Personen melden sich. Nacheinander schlurfen sie ins Arbeitszimmer des Hauses in der Great Wood Street. Bärtig, einäugig, pockennarbig, sabbernd und stinkend, und jeder tischt dem jungen Erben eine andere Version auf. Er lauscht zusammenhanglosen Geschichten über Mord und Totschlag, Kannibalismus, Vergewaltigung, Raub. Er hört von Kindesentführung und Verstümmelung, Fellatio und Sodomie, von Zigeunern, Mohren und Juden. Die Teppiche starren vor Schmutz, und der Spucknapf läuft schon über, als ein hagerer Mann von etwa vierzig Jahren, mit einem Bizeps so fest wie eine Speckschwarte, hereingeführt wird. Auf dem Kinn hat er drei oder vier Tage alte Bartstoppeln, die er sich von Zeit zu Zeit mit flinken, nervösen Fingern streicht. Seine Augen sind hell wie blaue Glasscherben. «Mein Name is Crump», sagt er mit rasselnder, harter Stimme. «Ich kenn die Leute, die was Sie suchen tun. Grabräuber, nich?»
    Osprey bedeutet ihm, Platz zu nehmen.
    «Das sind ’n paar ganz üble Burschen, mit’m Teufel im Bund. Ganz scheußliche Sache, was die da gemacht ham. Einfach nich mehr menschenwürdich.»
    Schmallippig und verführerisch klingelt Osprey mit einem Beutel voll Münzen. Seine Blicke halten den Mann wie mit der Kreifzange fest. «Wo sind sie?»
    «Der mit’m Krückebein, das is der Quiddle. Den finden Se im St.   Bartholomew’s. Der andre, der Plattkopp, den tunse Boyles nennen, Billy Boyles. Das is ’n Säufer. Penntin Holzhütten und Gemüsekarren un so. Aber wen Sie kriegen wolln, das is der Rädelsanführer, das Gehirn vons Ganze.» Crump macht eine Pause und wischt sich mit dem Ärmel über die Lippen. «Sind doch hunnert Funt, diese da bieten tun, stimmt’s?»
    Osprey klingelt mit dem Beutel, langsam und verlockend.
    «Also, der heißt Ned. Ned, wie weiter, weiß ich nich. Das is ’n mächtig gerissener Bursche, das isser. Wie ’ne Schlange. Aber ich hab’n beobachtet und bin ihm nach wie ’n Terrier nach ’ner Ratte. Und deswegen kann ich Ihnen auch sagen, wo der wohnen tut. Nämlich in Limehouse. Über der ‹Meerjungfrau›.» Crump leckt sich über die rissigen Lippen. «Gehn Se gleich los», flüstert er, «greifen Se’n sich, solange’s noch hell is.»

VOM BLUTHUND GEHETZT
    Die Erfahrung hat Ned Rise eine Menge Dinge gelehrt – meist unangenehme. Eine Lehre zum Beispiel war, daß man seine Aktiva immer flüssig haben sollte. Und eine Schwimmweste zu tragen, wenn man mit hohem Seegang rechnet. Außerdem weiß er inzwischen, daß ein umsichtiger Unternehmer nie die Schuhe abstreift, beim Schlafen immer ein Auge offenhält und unter gar keinen Umständen Räume betritt, die nur eine Tür haben.
    Deshalb läßt sich Ned nur teilweise überraschen, als Osprey mit zwei bewaffneten Beamten völlig unangemeldet und unerwartet seine Wohnung stürmt. Obwohl er im Bett liegt und schläft, als sie die Tür des Wohnzimmers eintreten, ist er über

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