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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Menschenfresser und todkündende Feen – aber das hier war Wirklichkeit. Vor knapp fünf Minuten hatte er Auge in Auge mit dem Unmöglichen gestanden. Ob man es nun Gespenst, Phantom oder Schattenwesen nannte – es war echt, ein lebender, redender Toter. Billy war erschüttert. Ziemlich angesäuselt, aber dennoch erschüttert. Ned mußte ihn niederwerfen, ihm die Arme festhalten, an die fünfzig Ohrfeigen versetzen und die ganze Geschichte, wie er dem Henker entronnen war, zweimal vorbeten, ehe Billy sich überreden ließ, aufzustehen und dabei zu helfen, Quiddle über die Mauer zu heben.
    Boyles saß im Karren und nuckelte an Neds Taschenflasche wie ein Träumer. Quiddle blutete und stöhnte. Von Zeit zu Zeit klagte er über die Kälte. Ned peitschte das Pferd, bis sein Schultergelenk taub wurde. Als sie in St.   Bartholomew’s ankamen, führte Delp die Amputation selbst durch, nahm das Bein knapp unter der Hüfte ab und verätzte die Wunde mit einem Schaufelblatt, das er über dem Feuer zum Glühen gebracht hatte.
    Da Quiddle nun außer Gefecht war, sah sich Delp nahezu ausschließlich auf Ned angewiesen. Und Ned, dem praktisch keine Alternative blieb, überwand allmählich seine Widerstände gegen den Job und begann, im Kampfum den knappen Nachschub an Kadavern der Londoner Gegend gegen die Konkurrenz von Crump und anderen seine List einzusetzen. Für sieben Liter Gin pro Woche ließ sich Boyles als Assistent anheuern, und bald fühlten sich die beiden auf Friedhöfen und in Leichenhallen ebenso heimisch wie in Bierkellern und Kneipen. Nach einem Jahr schaffte Ned mehr Exemplare heran, als Delp zerlegen konnte, und war deshalb hie und da auch ein wenig freiberuflich tätig. Im Jahr darauf konnte er es sich leisten, aus dem Krankenhaus auszuziehen und eine Wohnung in Limehouse zu mieten. Er begann, sich eleganter zu kleiden. Zum Essen auszugehen. An eine Reise über den Kanal zu denken, um seine verlorene Geliebte aufzuspüren.
    Er war am Leben. Er paßte sich an. Trotz der Gefahren und der Unappetitlichkeit seines neuen Metiers war er von vorsichtigem Optimismus durchdrungen. Auf der einen Seite drohte Unheil durch den fordernden, skrupellosen Delp, auf der anderen durch Crump, den der Übergriff in seinen Machtbereich sehr erboste. Doch Ned gelang auf Zehenspitzen eine geschickte Gratwanderung zwischen den beiden, und ganz allmählich, mit stetiger, stufenweiser Zuwachsrate, stieg sein Stern wieder auf.
     
    Nicht anders als die Trauerwache auf der Treppe und der alte Mann mit den Rautenzweigen ist Ned an dem Verblichenen also nur auf rein professioneller Basis interessiert. Am Morgen des Vortags war er beim Überfliegen der Todesanzeigen auf folgende Meldung gestoßen:
     
    Tiefes Bedauern empfindet die Stadt über das Dahinscheiden von Mr.   Claude Messenger Osprey, dem Hersteller feinen Porzellans und Geschirrs, welcher gestern, am 7
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Juni 1801
,
im Alter von siebenundfünfzig Jahren an der Halsbräune verstarb. Am bekanntesten wurde Mr.   Osprey wohl durch seinen entschlossenen und innovativen Einsatz in der Manufaktur von
Porzellan-Nachttöpfen. Er entwickelte als erster den Gedanken des pot de chambre mit persönlicher Note und beschäftigt eine Reihe inspirierter Künstler, deren erfrischende Kleeblatt- und Weidenzweig-Muster uns allen so wohlvertraut sind. Mr.   Osprey hinterläßt das Unternehmen seinem Bruder Drummond aus Cheapside und seinem Sohn Claude jun., dem Porzellanhändler aus Bristol. Der Verstorbene wird heute abend und den ganzen morgigen Tag über im Hause seines Bruders aufgebahrt liegen. Die Beerdigungszeremonie ist für morgen abend, neun Uhr, angesetzt.
     
    Ein paar Erkundigungen unter dem betrübten Personal des Hauses Osprey brachten eine recht interessante Information zutage: An Claude junior, den gegenwärtig aus Bristol anreisenden Sohn, erinnerte man sich nur als Kind. Infolge eines Zwistes zwischen Claude sen. und dessen Frau war der Junge mit neun Jahren auf ein Internat geschickt worden und hatte dann sein Studium absolviert, geheiratet und in Bristol die Leitung der Filiale des Familienunternehmens übernommen, ohne je wieder nach Hause zu kommen. Seit fast zwanzig Jahren hatte ihn keiner der Londoner Ospreys mehr zu Gesicht bekommen.
    Als an diesem Abend die Postkutsche aus Bristol vor dem Gloucester Coffee House einrollte, wurde sie schon von Ned, Quiddle und Boyles erwartet. Bevor der Wagen noch hielt, riß Boyles, in Livree, den Schlag auf und rief mit vor

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