Wassermusik
Haus war schon lange mit Brettern vernagelt. Briefe wurden nicht beantwortet. Es ging das Gerücht, er sei tot. Wenn das stimmte, wo war dann Fanny?
Als Ned im kalten Schummerlicht des Morgengrauens die verlassene Landstraße entlangstapfte, konnte er allerdings nicht ahnen, daß die Frage inzwischen bedeutungslos geworden war.
ABGRUNDTIEFE SEUFZER
Fanny Brunch verließ London früh am Morgen des Weihnachtstages 1797 im Schockzustand. Erst nach fast vier Jahren sollte sie zurückkehren.
An jenem Morgen schneite es, in zitternden kleinen Klümpchen wirbelte es weiß aus dem trüben Himmel herab. Sie nahm kaum etwas wahr. Als sie schließlich aus dem Gefängnis heraustrat, es war fünf Uhr früh vorbei, erwartete sie Brooks’ Diener am Tor. Sie sah direkt durch ihn hindurch, als er ihr in die Kutsche half, seine Berührung war die Berührung eines Verdammten, Fleisch, Blut, Sehnen, Knochen. Während der ganzen Fahrt nach Gravesend sah sie auf die Bäume hinaus, die sich aus der Dunkelheit schälten und zu Galgen wurden, auf den Schnee, der an den kahlen Ästen klebte wie Fleischfetzen, auf Büschel von trockenem Laub, die sich urplötzlich in auskeilende, sich windende menschliche Gestalten verwandelten. Sie fühlte sich leicht, vom Körper losgelöst. Ein Geruch nach fauligem Fleisch lag ihr in der Nase, bohrend und hartnäckig. Einmal wurde der Geruch so stark, daß sie den Kutscher bitten mußte anzuhalten, damit sie sich am Straßenrand übergeben konnte.
Brooks verabreichte ihr eine Dosis Laudanum für die Überfahrt nach Bremerhaven, später eine zweite, dritte und vierte, um ihre Nerven zu beruhigen, als sie von dort nach Cuxhaven und Hamburg weiterreisten. So träumte sie in der schmalen Koje, während das Schiff durch einen Nordseesturm stampfte; ihre Pupillen waren zu kleinen Pünktchen verengt, der Wind besänftigte sie mit einem Stimmenchor. Ihre Nase wurde frei, der Brodem von verwesendem Fleisch wich einem Duft nach Feldern und Wiesen, nach Azaleen und Hyazinthen, nach Frühling in Hertfordshire. Die dunklen Sparren über ihr begannen zu verschwimmen und ineinanderzufließen, die Schatten ballten sich wie Weintrauben zu Gesichtern, während die Kerze wild flackerte, als das Schiff schwer überholte wie eine Kutsche, der ein Rad fehlt. Sie sah ihren Vater auf einem Frühjahrsspaziergang, den sie einmal in den Kreidefelsen gemacht hatten, die sauber ausgefegte Küche ihresstrohgedeckten Steinhäuschens. Mal wurde sie kurz wach, dann träumte sie gleich wieder. Sie erbrach sich und genoß es. Sie roch den Duft von Rosen. Gegen Ende sah sie Ned, der an einem dunklen Ort lag – in einer Höhle –, mit wundgescheuertem Hals, ein Leintuch über die Lenden gebreitet. Wieder sah sie den Galgen, ganz kurz nur, und dann stand Ned auf, bewegte sich auf den Ausgang der Höhle zu. Das Licht war blendend grell. Sie hörte ein Singen. Und dann war sie plötzlich in einem Hamburger Hotel und saß in einem neuen weißen Seidengewand Brooks gegenüber am Tisch.
«Fanny», sagte er. «Würdest du mich bitte ansehen?»
Sie sah ihn an. Er stand jetzt. Neben ihm war ein großgewachsener Mann mit buschigem, zur Seite gekämmtem Schnurrbart. Seine Augen standen eng beieinander, halb so groß wie normale Augen. Er musterte sie durch ein Lorgnon.
«Das hier ist der Herr, von dem ich dir erzahlt habe – du weißt doch, den ich gestern abend beim Kartenspielen kennengelernt habe.»
Der Mann beugte sich vor und ergriff ihre Hand. «Karl Erasmus von Pölkler», sagte er.
Ihr Lächeln war wie alle Kleefelder von Hertfordshire auf einmal, das Lächeln einer Schwachsinnigen. Sie dachte an etwas anderes.
Zwei Abende später machte sie das nächstemal die Augen auf und fand sich an einem massiven Walnuß-Eßtisch wieder, der in der Mitte eines hohen, gewölbeartigen Raumes stand. Die Mauern aus rohem Stein und Mörtel wurden nur hie und da durch ein düsteres Porträt oder einen orientalischen Wandteppich aufgelockert. Ein Kronleuchter mit Hunderten strahlender Kerzen hing von der Decke wie ein Stück Sonne. Im ersten Moment fehlte ihr die Orientierung, das Opium legte einen dichten Nebel über ihre Gedankengänge,doch dann sah sie zum Kopf des Tisches hinüber und erkannte Herrn von Pölkler, der gerade das Weinglas zu einem Trinkspruch erhob. Sechs weitere Gäste, darunter Brooks, hoben ebenfalls ihre Gläser, während Pölkler etwas auf deutsch intonierte, worauf sich sieben Augenpaare auf Fanny richteten. Errötend
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