Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Die Erde atmet ein und atmet wieder aus. Neben ihm blättert Alexander Anderson träge in einem Bericht über den Sklavenhandel in Westafrika und schlürft dabei Starkbier aus einem Krug.
    Nach einer Weile kommt der Entdeckungsreisende auf einen Ellenbogen hoch und sieht zu Ailie hinüber, die weiter hinten am Ufer knietief im kalten, sprudelnden Wasser steht, während Thomas und Mungo junior im Matsch spielen und Großmutter Park das Baby in der Wiege schaukelt. Es ist der September des Jahres 1803.   Zwei Jahre haben sich seit dem Umzug nach Peebles dahingeschleppt. Zwei Jahre, in denen die Vorbereitungen für eine zweite Expedition nach Westafrika mehrfach in Gang kamen und jedesmal abgeblasen wurden, zwei Jahre, in denen es galt, Ailie zu besänftigen und eine Unmenge von Einwänden zu entkräften, zwei Jahre der ermüdendsten und undankbarsten Arbeit, die er je getan hat: die Pflege der siechen, krebszerfressenen Leute von Peebleshire, die allesamt den Aufwandnicht lohnten. Zwei Jahre später, zwei Kinder mehr. Mungo junior war im Herbst 1801 gekommen, kurz nachdem sie in Peebles eingezogen waren; Elizabeth wurde im letzten Frühjahr geboren.
    Alles schön und gut. Gesunde Kinder, eine liebende Frau. Darum geht es doch im Leben. Doch allmählich macht ihm die Größe seiner Familie Sorgen. Vier Jahre verheiratet, drei Kinder. Er versucht, sich vorzustellen, wie es in zwanzig Jahren sein wird, er mit weißem Haar und von fünfzehn Kindern umringt, die nach Fleisch und Milch und Zuckerbrot, neuen Anzügen und Kleidchen, Schulbüchern, Aussteuern, Studiengebühren jammern. «Drei sind genug», sagt er zu Ailie, aber sie sieht ihn nur aus dem Augenwinkel an, vielsagend und durchtrieben, fruchtbar wie Nigerschlamm. «Ich will Kinder, die mich an dich erinnern, wenn du fortgehst und mich im Stich läßt», sagt sie, ohne jede Spur von Humor, jedes Kind ist ein neues Glied in der Kette, die ihn an sie bindet. Abends entzündet sie Kerzen vor der geschnitzten schwarzen Statue, die wie eine Ikone in der Mitte ihres Toilettentisches hockt, und einmal hat er sie dabei ertappt, wie sie über den angeschwollenen Bauch der Figur strich, bevor sie ins Bett kam. Anfassen genügt, schon ist sie wieder schwanger.
    «Ich mache mir Sorgen, Zander.»
    Zander sieht blinzelnd von seinem Buch auf.
    «Darüber, wie die Familie anwächst und so. Ich fühle mich für sie verantwortlich, ich will für sie sorgen   … aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, nach Peebles zurückzugehen. Die Woche hier in Fowlshiels war himmlisch, verglichen mit der Schinderei da oben – wirklich himmlisch, aber trotzdem kann ich’s nicht genießen. Ich habe das Gefühl, mein Leben zu verschleudern. Jedesmal wenn ich mich aufs Pferd schwinge und zu einer gottverlassenen Hütte in die Berge rausreite, um einen alten Opa sich zu Tode husten zu sehen, muß ich immer daran denken, daßich auch so enden könnte. Auf dem Rücken sterben. Im Bett. Nach vierzig Jahren Langeweile.»
    «Na, und was sagt Ailie?»
    «Du weißt, was sie sagt.»
    «Nix Afrika.»
    «Nix Afrika.»
    Der Entdeckungsreisende zieht nachlässig seine Angel ein Stück ein und wendet den Blick wieder zu Ailie. Er sieht zu, wie sie den Fluß hinaufkrault, gegen die Strömung ankämpft, ein Arm schwebt in einem Schauer von Spritzern in der Luft, dann der andere, silbrig, strahlend, klar und präzise. Sie bewegt sich wie ein fürs Wasser geborenes Wesen. Einen Moment lang verliert er sie in einem schimmernden Bogen der reflektierten Sonne aus den Augen, nur um sie aus einer Aureole von Licht wieder auftauchen zu sehen, für den Bruchteil einer Sekunde war sie verwandelt in etwas jenseits von Fleisch und Blut, in etwas Mythisches, Zeitloses. Wie könnte er sie je verlassen?
    «Aber», sagt Zander, «vielleicht gibt es höhere Pflichten als die Familienpflicht. Vielleicht schuldest du der Wissenschaft und der Zivilisation auch etwas.»
    Mungo dreht sich um und sieht ihn direkt an. «Ich habe heute morgen einen Brief gekriegt, Zander. Ist mir extra aus Peebles nachgesandt worden. Kam ganz früh. Bevor sie auf war.»
    Die Nachricht trifft Alexander Anderson wie ein elektrischer Schlag. Zehntausend Volt. Er stößt sein Bier um, läßt das Buch fallen und springt auf. «Aus London?»
    Der Entdeckungsreisende nickt. «Von der Regierung. Lord Hobart. Er will mich umgehend sprechen   … wegen der Ausrüstung einer Expedition, die den Lauf des Niger erkunden soll.» Der letzte Satz ist ein beinahe

Weitere Kostenlose Bücher