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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Medizin in den Brei zu tun. Es funktionierte. Und jetzt war die Medizin ebenso Teil seines Lebens geworden wie bei Fanny. Ihr gefiel das nicht. Sie spürte, daß das Kind so mit einem Nachteil behaftet war, gleich als Krüppel begann, gesattelt mit einer speziellen Gier, ein spezielles Verlangen zu stillen. Doch was machte es schon aus? Pölkler würde ihr den Sohn ohnehin wegnehmen und indoktrinieren, bis er ein Fremder für sie wäre. Davon konnte sie ihn nicht abhalten.
    Gerade grübelte sie in ihrem Bett darüber nach, während das Laudanum ihren Unterleib mit festem, heißem Griff streichelte, da flog die Tür auf, und Brooks torkelte ins Zimmer. Mit zerrissenen Kleidern, beschmiertem Gesicht, die Augen tief in die Höhlen gebohrt. Er taumelte auf das Bett zu, verfehlte sein Ziel und knallte der Länge nach in der Ecke hin. Kurz darauf erklang ein würgendes Geräusch – dann war er ganz still.
    Vorsichtig stand Fanny auf und beugte sich über ihn. Er schien nicht zu atmen. Sie drehte ihn um und horchte nach dem Herzschlag. Es war keiner zu hören. Sie kroch ins Bett zurück und nahm einen Löffel Medizin, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ganz langsam entfaltete sich in ihr ein Gedanke, zusammengesetzt zu gleichen Teilen aus Angst und Erregung. Zwei Stunden später – Brooks war längst kalt, und fahles graues Licht spähte durchs Fenster – nahmsie ihm eine Handvoll Münzen aus der Tasche, zog ihr Kind an und schlich auf den Korridor hinaus.
    Das Haus lag schweigend da. Steinerne Gänge verloren sich in der Finsternis, Gobelins verdüsterten die Wände. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe zum großen Saal hinab; sie fürchtete, Pölkler könne von seiner Orgie immer noch nicht genug haben und mit roten Augen unten herumgeistern – er würde sie, die Mutter seines Zöglings, bestimmt zurückhalten. Sie mußte schon Cuxhaven erreichen – nein, an Bord eines Kutters in der Nordsee sein   –, ehe sie vor ihm sicher wäre. Einstweilen aber war die Luft rein: Er war nirgends zu sehen.
    Der Festsaal war ein Schlachtfeld. Überall lagen zersplitterte Möbel, umgekippte Tische, Speisereste, Glasscherben. Man hörte lautes Schnarchen. Irgendwo stöhnte jemand. Zu ihrer Linken lehnte Herr Meinfuß, der Stallknecht, an der Wand. Ein anderer Mann schlief in seinem Schoß. Hinter ihnen lag ein dunkles Etwas reglos auf dem Boden. Es war Bruno, Pölklers Schäferhund. Das Tier war völlig ausgeweidet worden, seine Gedärme schlängelten sich wie verfaulte Würste aus dem Schlund der Leibeshöhle. Fanny führte ihren Sohn um den Kadaver und hinaus ins graue Morgenlicht. Ihre Jugend in Hertfordshire war ihr von großem Vorteil, als sie die Stallungen erreichte. Ohne Schwierigkeiten sattelte sie das beste Pferd des Markgrafs – einen grauen Araberhengst   –, plazierte den Jungen hinter den Sattelknauf und machte sich querfeldein auf den Weg nach Hamburg. In vollem Galopp. In Hamburg gelang es ihr, das Pferd einem mißtrauischen, aber profitgierigen Händler zu verkaufen, indem sie in gebrochenem Deutsch erklärte, ihr Mann habe sich in Oldenburg verletzt und sie müsse Geld zusammenkratzen, um ihm zu Hilfe zu kommen. Der Roßtäuscher bleckte die Zähne zu einem komplizenhaften Grinsen, gab ihr ein Fünftel des Werts und wünschte dem Herrn Gemahl gute Besserung.
    Bei Anbruch der Nacht war sie in Cuxhaven. Am nächsten Morgen um sechs würde ein Schiff nach London via Den Haag auslaufen. Ihr Geld reichte gerade für die Passage, nachdem sie beim Apotheker zwei Fläschchen Laudanum und etwas Milch und Grütze für ihren Sohn gekauft hatte. Die ganze Nacht hindurch kauerte sie auf dem Dock und fuhr beim geringsten Geräusch in die Höhe, da sie jeden Moment damit rechnete, Herrn von Pölkler wie einen Raubvogel auf sie niederstoßen zu sehen. Bei Tagesanbruch durften die Passagiere endlich an Bord, der Kapitän ließ den Anker lichten, und der Schoner stampfte in die Bucht hinaus. Fanny stand an der Reling und sah die Küste zurückweichen, als eine große Gestalt mit Schnurrbart donnernd auf das Dock geritten kam, die Faust wutentbrannt erhoben. An Land entstand plötzlich heftige Aufregung. Es ertönte ein Schuß, Stimmen schwebten übers Wasser wie die Klagen der Verdammten. Doch in diesem Moment kam ein Wind auf und packte die Segel wie ein gewaltiger Handschuh, und die Uferlinie verlor sich in der grauen Gischt.
     
    Falls sie über diese Flucht Triumph empfunden, das Gefühl bekommen hatte, in einer

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