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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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die Alte in die Hand drückte, konnte sie nicht ruhig halten. «Könntest ’nBecher von Mutter Genever brauchen, Mädel, wie? Oder isses was Stärkeres, was du ham willst?»
    Fanny ließ den Kopf hängen und bat um Laudanum – falls die alte Frau vielleicht welches dahätte. «Ich hab was am Magen», setzte sie leise hinzu.
    Die Alte richtete sich mühsam auf und hinkte in eine finstere Ecke davon, wo sie scheinbar stundenlang unter einem Haufen dreckiger Kleider herumwühlte. Als sie endlich zum Kamin zurückgewackelt kam, der Atem pfiff in ihrer Lunge, lag in ihrer Krallenhand ein blaues Fläschchen. «Tinctura opii», las sie vom Etikett ab. «Isses das, was de brauchen tust, Mädel?» Die Alte grinste. Plötzlich entrang sich ihrem Mund ein wahnsinniges, urtümliches Kreischen: «Iiiih!» keckerte sie. «Iiih-hiiih!»
    Fanny riß ihr das Fläschchen weg und setzte es an die Lippen. Fast sofort verschwand das beklemmende Gefühl in ihrer Kehle. Die Nagetiere hörten auf, ihr den Magen zu zerfressen, der grelle Schmerz im Kopf ließ nach, legte sich langsam und wich schließlich einem Meer der Lähmung. Sie nahm noch einen Schluck, dann noch einen. Nach einer Weile legte sie sich zurück und sah zu, wie die Zimmerdecke sich zu drehen begann: ein immer schneller werdender Wirbel von Planeten und Satelliten, feurigen Sonnen und den kalten schwarzen Weiten des Weltraums.
     
    Sie erwachte im Morgengrauen. Ein Mann und eine Frau standen über ihr. Der Mann hatte eine gelbliche Eiterpustel auf der Nasenspitze, die Frau hielt sich einen Kehrbesen vor die Brust wie einen Schild. «Was zum Teufel noch mal machst du denn hier in mei’m Laden?» sagte der Mann.
    Benommen setzte sich Fanny auf und tastete nach ihrem Kind. Das Kind war fort.
    «Red schon, du Schlampe!» zischte die Frau.
    Fanny fühlte sich, als hätte man sie eine Treppe hinuntergeworfen und mit einem Hammer verprügelt. DiePanik pochte ihr gegen die Rippen. «Ich – ich   … die alte Frau   …»
    «Was für ’ne alte Frau?» fragte der Mann.
    «Die is doch blöde im Kopp», blaffte die Frau und trat mit ihrem Besen näher.
    «Nein, nein – Sie verstehen mich nicht. Die hat meinen Jungen mitgenommen. Genau hier war’s, letzte Nacht, sie   …»
    «So, raus jetzt!» fuhr der Mann sie an. «Raus hier, bevor ich den Gendarm holen tu. Haste gehört? Raus!»
     
    Eine Woche lang suchte sie die Straßen ab, schlief jede Nacht vor der Tür des Ladens in der Monmouth Street. Sie aß nichts mehr. Das Laudanum ging zur Neige. Sie lag nach Atem ringend in der Gasse hinter dem Laden, ihr Magen war zerfetzt, ihr Herz entzweigerissen. Sie war eine Hure, eine Opiumesserin, eine Mutter ohne Kind. Trotz all ihrer Schönheit, Ausdauer und Geschicklichkeit war es so weit mit ihr gekommen. Man schrieb das neunzehnte Jahrhundert. Was sollte eine Heldin da schon anderes tun, als den Weg zum Fluß hinunter nehmen.
    Es war im Monat Oktober des Jahres 1801 – doch das wußte sie kaum. Napoleon lullte die Briten mit dem Frieden von Amiens ein, De Quincey war sechzehn und bäumte sich unter der Zucht der Manchester Grammar School auf, Ned Rise war vollauf beschäftigt, sich vor Osprey zu verstecken und suchte mit leicht resignierter Hoffnungslosigkeit nach seiner verschollenen Liebe, nach ihr, nach Fanny. Fanny jedoch suchte nach niemandem. Ihr Sohn war ihr geraubt worden, Ned eine bloße Erinnerung. In einer Nebelnacht nahm sie den Weg zur Blackfriars Bridge, stieg aufs Geländer und stürzte sich in den Dunst hinab. Das glatte dunkle Wasser schloß sich über ihr wie ein Vorhang, der vor einer Bühne fällt.

NYMPHE UND SIRENENKLÄNGE
    Der Fluß ist ein Murmeln, ein Pulsieren, ein Traum des Körpers, Schwärme von Plötzen und Weißfischen wie ein wogender Blutstrom, das Tack-tack-tack eines hängengebliebenen Astes, beharrlich wie der Herzschlag. Von hier unten, auf gleicher Ebene mit dem Wasserspiegel, scheint sich die Oberfläche in tausend Finger aufzuspalten; alle tasten sich anderswohin, glätten Rinnen, umrunden die abgeschliffenen schwarzen Felsen, die sich scheinbar wie Schulterblätter heben und senken, wenn die Strömung sie überspült. Mungo legt sich in das harte hohe Gras zurück, das sich über die Uferböschung ergießt, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Angelrute unter einem überhängenden Ast festgeklemmt. Er ist im Urlaub, in Fowlshiels, und die Rufe seiner spielenden Kinder und das geschwätzige Murmeln seiner Frau überspülen ihn wie Balsam.

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