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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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aufgesessen, erhob sich hoch oben auf dem Pferd wie eine reglose Bronzestatue vor dem Himmel. Sie dachte an Soldaten, an den Krieg gegen Frankreich, an Colin Raeburn und Oliphant Graham, beide vor Kopenhagen gefallen. Und dann plötzlich, unerklärlicherweise, dachte sie an ihre Mutter. Mungos Gesicht zeigte keine Regung.Sie brachte ein Lächeln zustande. «In vier, fünf Tagen?» wiederholte sie.
    Die Sonne stand in seinem Rücken, und sie mußte die Augen zukneifen, um seine Augen zu sehen. Sie hatten die Farbe von Eis. Das Pferd wieherte, und sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Er gab ihr keine Antwort. Zog nur an den Zügeln, riß den Kopf des Tiers herum und trabte davon.
     
    Der Brief kam zwei Wochen später. Aus London. Ohne eine Adresse des Absenders:
     
    19
.
September 1804
     
    LIEBSTE AILIE,
    Verzeih mir. Eine Szene hätte ich nicht ausgehalten. Wie Du wohl schon erraten oder von Deinem Bruder gehört hast, bin ich wieder auf dem Wege nach Afrika. Diesmal führe ich eine von der Regierung finanzierte Expedition von etwa 40   Mann. Es ist eine großartige Gelegenheit. Und meine patriotische Pflicht, sie zu ergreifen.
    Ich werde vor Leid vergehen, bis ich wieder bei Dir und den Kindern bin, was zweifelsohne innerhalb eines Jahres der Fall sein wird. Wir haben vor, uns in Segou einzuschiffen und den Fluß bis zur Mündung zu verfolgen. Wenn unser Kind ein Junge wird, nenn ihn nach Archie, ja?
    Bitte versuche mich zu verstehen, Ailie, liebste Ailie. Der Yarrow ist zahm, das Leben dort ist zahm. Da draußen aber gibt es unerforschte Wunder   – Wunder, die darauf warten, daß der rechte Mann alles aufs Spiel setzt, sie zu entdecken. Ich bin dieser Mann, Ailie, ich bin dieser Mann.
     
    In Liebe und Reue,
    Dein Mungo
     
    Der Brief durchbohrte sie wie ein Knochenspeer, geschleudert von einem Eingeborenen, irgendeinem Bubi, direkt aus dem Brodem und der Angst und der Unverständlichkeit, die für sie Afrika war, direkt aus dem Herzen der Finsternis selbst. Sie hatte keineswegs etwas von Zander gehört – er war ihr ausgewichen. Nach einer Woche hatte sie gewußt, daß der Brief kommen würde, hatte auch gewußt, was darin stand, bevor sie ihn öffnete. Sie hatte es gewußt und doch alle Heiligen und Erzengel und himmlischen Mächte angefleht, sie möge sich geirrt haben, Mungo möge in Edinburgh aufgehalten worden sein, einen kleinen Unfall gehabt haben oder mit Robbie Macleod aufs Land gefahren sein.
    Aber nein. Er hatte sie erneut getäuscht. Dieser Schweinehund. Dieser feige, verantwortungslose, verlogene Schweinehund. Sie so im Stich zu lassen, ihr etwas vorzulügen, alles vorzubereiten und sie immer noch anzulügen. Seine innersten Geheimnisse einem völlig Fremden wie Scott anzuvertrauen, sie aber vor ihr zu verbergen. Mit ihm war sie jedenfalls fertig. Er war ein Lump, ein Lügner und Betrüger. Ihre Liebe und ihr Vertrauen, ihre Treue und ihren Glauben hatte er genommen und sich unter dem Deckmantel einer Lüge davongeschlichen – wie ein Dieb.
    Sie las den Brief noch einmal durch, warf ihn angewidert fort. Und dann, wie aus einem nachträglichen Einfall heraus, hob sie den Umschlag wieder auf, drehte ihn um und bemerkte, daß auf der Innenseite etwas geschrieben stand – ein Postskriptum? Die Schrift war verkrampft und hastig, so ungelenk, daß es fast jemand anders geschrieben haben konnte. Sie ging mit dem Brief ans Fenster und betrachtete die wilden Schleifen und engen Kringel, bis sie es entziffert hatte:
Ich höre es in meinen Träumen, höre es des Morgens, wenn ich erwache und die Vögel in den Bäumen singen – ein Rascheln, ein Raunen – den Klang von Musik. Weißt du,
was das ist? Der Niger. Rauschend und tosend braust er seiner verborgenen Mündung entgegen, ins Meer hinaus. Ich höre das ständig, Ailie, Tag und Nacht. Musik.
    Das Baby schrie. Sie warf den Umschlag ins Feuer.
     

Dritter Teil
NIGER REDUX
    «Il temporal foco e l’etterno
    veduto hai, figlio; e se’ venuto in parte
    dov’io per me più oltre non discerno.
    Tratto t’ho qui con ingegno e con arte;
    lo tuo piacere omai prendi per duce.»
     
    VERGIL ZU DANTE
    in «La Divina Commedia»

GOREE (HYMNE AUF DEN PESTHAUCH)
    An der Wende zum 19.   Jahrhundert besaß die Westküste Afrikas (von Dakar bis zur Bucht von Benin) einen auf der ganzen Welt unerreichten Ruf der Pestilenz und Fäulnis. Bei ihrer Hitze und Feuchtigkeit, den jahreszeitlichen Sintfluten und den Myriaden von Insekten war sie eine Art

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