Wassermusik
Unterleib, und ihre Faust packte eine Flasche klaren weißenHau-mich-um. Das Stroh war dreckig. Tauben ließen ihren Kot von den Dachsparren fallen. Es war so kalt, daß selbst die Läuse langsamer als sonst liefen. Sie wählte einen Pferch ganz hinten, weil sie dort den Pferden und dem bißchen Wärme näher war, das sie verströmten. Dann machte sie es sich mit ihrer Pulle bequem.
Sie war eine Säuferin, Neds Mutter. Angehörige der großen Schwesternschaft des Jammers. Zu dieser Zeit in der britischen Geschichte stand die Schwesternschaft des Gins – ebenso wie die dazugehörige Bruderschaft – in voller Blüte. Als Gin gegen Ende des 17. Jahrhunderts erstmals in England bekannt wurde (manche behaupten, William III. hätte ihn aus Holland mitgebracht, andere sagen, der Teufel selbst hätte ihn aus Knochen und Mark destilliert), wurde er über Nacht zum Schlager bei den unteren Schichten. Billig wie Pisse, stark wie ein Schlag auf den Schädel: alle waren ganz verrückt danach. Wozu den ganzen Abend lang Bier in sich reinkippen, wenn man schon in einer halben Stunde voll im Öl sein konnte – für einen Penny? Schon 1710 waren die Straßen von Besoffenen übersät, manche splitternackt ausgezogen, andere steif wie Grabsteine. Als Sir Joseph Jekyll, Vorsteher des Londoner Staatsarchivs, ein Gesetz zur Eindämmung des verderblichen Einflusses des Gins durch Konzessionierung und Besteuerung einbrachte, rotteten die Menschen sich zusammen, um sein Haus mit Steinen zu bewerfen und die Räder seiner Kutsche abzunagen. Es war unaufhaltsam. Gin war ein Mittel zur Linderung von harten Zeiten, er war Schlaf und Poesie, er war das Leben selbst. Aqua vitae. Neds Mutter war eine Gindrossel der zweiten Generation. Ihr Vater war Gerber. Er trank einen Liter am Tag und zog Häute ab. Er verkaufte sie mit neun als Dienstmädchen, mit dreizehn saß sie auf der Straße, mit vierzehn wurde sie Mutter. Sie starb an Leberzirrhose, Gehirnfieber, Schwindsucht und Chlorose, bevor sie zwanzig war.
Drei weitere Schlafgäste hatte das «Heilige Land» in dieser düst’ren Winternacht. Der erste war ein Patriarch ohne Anhang, dessen Husten wie Würfel im Becher klang; er starb, bevor es hell wurde. Der Wirt entdeckte ihn am Morgen: gefrorene Blutklumpen klebten ihm an Lippen und Hals und waren tief im welken weißen Nest seines Bartes vergraben. Der zweite war ein Steinmetz – Granitmonumente und Meilensteine – am Schluß einer dreitägigen Sauftour. Er kotzte ins Stroh und legte sich dann zum Schlafen hinein. Schließlich war da eine alte Frau, wie eine Schneiderpuppe in zerschlissene Röcke gewickelt, die nach Mitternacht hereinwackelte und sich kopfüber in den Pferch neben dem schwangeren Mädchen fallen ließ. Dort lag sie, die Alte, ihr Atem ging wie das Reiben rostiger Zahnräder, und sie lauschte dem Stöhnen von Neds Mutter. Stöhnen. Das war nichts Besonderes. Sie schloß die Augen. Doch dann kam ein Schrei, und dann noch einer. Die Alte setzte sich auf. Im Nebenpferch lag eine Dreizehn- oder Vierzehnjährige. Ihre Stirn war schweißnaß. Ein Flaschenhals ragte aus ihrer Jacke hervor. Sie lag in den Wehen.
Die alte Vettel kroch näher heran, packte die Flasche und nahm einen Schluck. «Hee, du!» krähte sie. «Haste Probleme, kleines Bleichgesicht? Tust wohl’n Baby kriegen, was?»
Das Mädchen blickte auf, zu Tode erschrocken.
«Iih-hiiih!» kreischte die Alte, womit sie die Tauben aus den Dachsparren verscheuchte. «Ich kenn das gut, o ja. Hat ’ne Zeit gegeben, wo die Kinner aus dem alten Schoß hier rausgepurzelt sind wie Äppel vom Baum.» Ihr Gesicht war abgeworfene Schlangenhaut, alterslos. Wer konnte sagen, wieviel Fleisch in ihr gewachsen war? Oder die Jahre zählen, die sie in türkischen Serails oder Berberhütten geschmachtet hatte? Wer konnte erraten, auf welchen krummen Wegen und dunklen Pfaden sie gegangen war, oderwas sie gedacht hatte, als man ihr diesen Ring aus gehämmertem Gold durch die Lippe trieb?
«Helfense mir», flüsterte das Mädchen.
Es war eine Steißgeburt. Zuerst die schrumpligen Beine und das Hinterteil, dann die Schultern, das Kinn, die glatte, glänzende Kuppel des Kopfes. Die Stunde des Wolfs kam und ging, und die Alte riß Ned aus dem Leib seiner Mutter. Ihre Finger waren trocken und knotig. Sie band die Nabelschnur ab und gab ihm einen Klaps. Er wimmerte. Dann wischte sie ihm mit dem Rocksaum Blut und Schleim von seinem Körper und steckte ihn sich unter den Mantel.
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