Wassermusik
Alloway ins Haus kam. Mrs. Alloway erklärte ihr, Damen seien für Reifröcke und Eleganz geschaffen, für Fertigkeiten in Dichtung und Musik und anderen dahinplätschernden Künsten. Zuvörderst seien Damen allzeit Damen, Pelzbesatz und Federkleid der Gesellschaft. Ailie schnitt sich aus Protest die Haare in Schulterhöhe ab. Seit jener Zeit trägt sie es so kurz.
Doch inzwischen ist ihre Mutter nur Erinnerung, unscharf, an den Rändern verschwommen, und auch Mrs. Alloway ist zur Unbedeutsamkeit reduziert, eine alte Frau, der das Fleisch auf den Knochen schwabbelt, eine Pensionärin des Todes in einer feuchten Hütte. Es gibt immer alte Reverenzen zu erweisen in dieser betagten Wanne, Erinnerungen fangen sich in einem Geruch oder beim Anfassen des aufgerauhten Holzes, aber heute gilt es, das Leben zu feiern, und sie kneift die Augen zu und ruft sich Mungo vor Augen, sein Gesicht wabert in tausend Masken, er lächeltund zwinkert, kräuselt die Oberlippe am Anfang einer lustigen Geschichte, schaut verblüfft drein, weil er in einen Scheuereimer tritt oder vom Pferd fällt. Das Wasser ist heiß, tröstlich und sinnlich. Es rötet ihre Haut. Sie ist in Island, in Norwegen. Eine heiße Quelle, Schneeflocken schmelzen auf dem Wasser, und eine Gestalt taucht im Nebel auf, nackt und athletisch, ihren Namen auf den Lippen – aber verflucht, sie hat den Waschlappen vergessen. Da krümmt er sich vertrocknet auf dem Tisch, ganz knapp außer Reichweite.
Das Wasser schwappt zurück, als sie sich erhebt, ihre Brüste knabenhaft und straff, ihr Körper glänzt vor Nässe, der dunkle Haarbusch ist wie ein Loch in ihrer Mitte. In diesem Augenblick fliegt die Tür auf, und ihr Vater stürmt ins Zimmer, dicht auf den Fersen folgt ihm Georgie Gleg, sein Famulus. Sie erstarrt für eine Sekunde, dann läßt sie sich ins Wasser plumpsen wie ein Stein. Einige Nachwellen brechen sich am Wannenrand und schwappen auf die Dielenbretter.
«Kinner!» ruft ihr Vater laut, um seine Verlegenheit zu kaschieren. «Kinner, Kinner, Kinner! Ausgerechnet mitten im Schneesturm müssen die aus’m Mutterleib rauskriechen!» Schon ist er am Schrank, wirft sich die Regenjacke über und fährt in die Stiefel. «Zum drittenmal heute! Drei Stück! Zwei Monate hab ich kein Kind mehr entbunden, und jetzt hat der Beelzebub selber das Wetter gemacht, und auf einmal kommt’s ganze Land gleichzeitig nieder!»
Sie steckt bis zum Hals im heißen Wasser. Ihre Ohren sind knallrot. Gleg, schlaksig und salbungsvoll, zwei Jahre jünger als sie, Zähne wie ein Pferd, starrt glotzäugig auf eine Stelle knapp über der Wanne, als hätte er eben ganz kurz den brennenden Dornbusch geschaut oder eine Leiter, die sich vom Himmel herabsenkt. Sein Mund steht weit offen, seine Nasenflügel beben.
«Gleg!» brüllt ihr Vater. «Hör auf, wie eine Hyäne zuglotzen, und zieh dir den Rock über, Jung! Wir müssen einen Hausbesuch machen!»
Gleg wirft sich auf den Schrank, als stürze er sich in einen Abgrund, ringt mit dem schweren Überzieher und beginnt seinen Kampf mit der Klinke. Ungeduldig stößt Dr. Anderson die Tür auf und schiebt ihn hindurch. Die Tür knallt zu. Sie hört das Geräusch scharrender Füße auf der Veranda, das Quietschen der Außentür, und dann sind sie weg.
Die Fische huschen im Aquarium herum. Die Turteltauben putzen sich die Flügelfedern. Und Ailie läßt sich von der durchdringenden Wärme des Bades tragen, fängt an, sich mit dem Waschlappen über die Beine zu fahren, ihr Kopf ist ganz leer, sie schrubbt und scheuert, geht völlig auf in ihrem Reinigungsritual.
WEDER TWIST NOCH COPPERFIELD, NICHT MAL FAGIN
Weder Oliver Twist noch David Copperfield, nicht mal der alte Hehler Fagin, Twists Lehrmeister, hatten eine Kindheit gehabt, die an die von Ned Rise herankam: ungewaschen, ungeschult, ungeliebt, geschlagen, mißbraucht, gequält, ausgeschlossen, ausgehungert, verstümmelt und verwaist, ein Opfer von Armut, Unwissenheit, Pech, Klassenvorurteilen, Chancenlosigkeit, feindseligem Schicksal und Gin. Seine Kindheit war derartig verwahrlost, daß selbst ein Zola bei der Vorstellung erschauert wäre.
Er wurde im Freien hinter einer armseligen Pofklitsche geboren, die bei Spaßvögeln «Das Heilige Land» hieß – strohgefüllte Pferche, für die man einen Penny pro Nacht löhnte. Es war 1771 im Monat Februar. Seine Mutter hatte nicht das Geld für ein Bett, also verkroch sie sich in dem offenen Schuppen; die Wehen kamen wie Tritte in den
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