Wassermusik
zitterten in sympathetischer Resonanz zum klagenden Vibrato des Instruments. Gekleidet war er wie ein Gentleman.
Ned sah zu, wie die sauberen, athletischen Finger die Klappen hinauf- und hinunterhuschten, sich da rasch niederließen, dort kurz verharrten, hopsten und wieselten wie junge Tiere beim Spiel. Stiefmütterchen und Narzissen blühten. Vergißmeinnicht und Pfingstrosen. Er setzte sich ins Gras und lauschte der Musik, die so schwirrend und süß war wie Vögel, die mit Honig gurgelten. Der Fuß des Mannes wippte beim Spielen im Takt. Einige der Zuhörer begannen mitzuwippen, die Schnallenpumps und Slipper und Holzpantinen hoben und senkten sich unisono, als würden sie an einer Schnur gezogen. Eine Frau schwang den Kopf in einem weichen, schimmernden Bogen, fast unmerklich, und die Sonne entzündete einen Glorienschein aus Löckchen rund um ihr Gesicht. Neds Fuß begann zu wippen. Er konnte sich keines glücklicheren Augenblicks entsinnen.
Als der Musiker eine Pause machte, zerstreute sich die Menge. Ned verweilte noch, um ihn zu betrachten. Der Mann drehte das Mundstück aus seinem Instrument, holte das Rohrblatt heraus und balancierte es wie eine Hostie auf der Zungenspitze. Aus einem Lederkoffer nahm er eine Bürste, mit der er erst das Mundstück, dann den Hohlkörper des Instruments auswischte. Die Klappen blitzten in der Sonne. «Du findest das alles aufregend, was?» sagte der Mann. Er sprach mit Ned.
Ned saß im Gras und kaute auf einem Halm herum, er war struppig wie eine ungemähte Wiese. Er hatte sein Lebenlang im Morast der Straße gelebt, in die Themse gepißt, seine Kleider kamen aus Mülltonnen, von Schnapsleichen im Koma oder von den echten, stocksteifen Leichen, die sich wie Feuerholz unter den Brücken stapelten. Er hätte nicht viel wilder und dreckiger sein können, wenn er unter Wölfen aufgewachsen wäre. «Na, und wenn schon?» stieß er hervor.
Der Mann zog das Blatt aus dem Mund, sah es prüfend an und schob es sich dann wieder zwischen die Lippen. Potthäßliche Waisenkinder wie dieses gab es Zehntausende auf den Straßen. Sie hingen an seinen Ellenbogen, wohin er auch ging, drängelten sich heran, boten ihre Münder und Körper an, jammerten nach Kupfermünzen, Brot und Bier. Doch etwas an diesem hier rührte ihn: was es war, konnte er gar nicht sagen. Er unternahm einen Vorstoß: «Ich weiß nicht – es kam mir nur so vor, als ob dir mein kleines Divertimento gefallen hat … die Musik, meine ich.»
Ned wurde weicher. «Ja, sehr», gab er zu.
Der Mann hielt das Instrument in die Höhe. «Weißt du, was das ist?»
«’ne Querpfeife?»
«Klarinette», sagte der Mann.
Ned wollte wissen, wie die Töne darauf erzeugt werden. Der Mann zeigte es ihm. Ob er wohl spielen lernen könne? fragte Ned. Der Mann starrte auf Neds Hand hinunter, dann fragte er ihn, ob er Hunger habe.
Prentiss Barrenboyne besaß einen Häuserblock in Mayfair. Er war Mitte Fünfzig. Er hatte nie geheiratet. Seine Mutter, eine eingefleischte Anhängerin des Kurpfuschertums, mit der er das ganze Leben lang zusammengelebt hatte, war einen Monat zuvor gestorben. Er nahm den Jungen an diesem Abend mit nach Hause und ließ ihn im Kohlenkeller schlafen. Am nächsten Morgen instruierte er seine Haushälterin,ihn zu waschen und essen zu lassen. Das war ein Fuß im Türspalt. Bis zum Ende der Woche war Ned Rise zur Gewohnheit geworden. Offiziell war sein Status der eines Dieners, aber bald behandelte ihn Barrenboyne, der vom naiven, wißbegierigen Enthusiasmus des Burschen für die Klarinette eingenommen war, eher als Familienmitglied. Er kleidete ihn ein, tischte ihm Milch und Koteletts und Bratensoße auf, brachte ihm Lesen bei und wie man eine Teetasse auf den Knien balancierte. Es gab Ausflüge ins Konzerthaus, ins Theater, zu den Werften und in den Zoo. Ein Hauslehrer wurde eingestellt. Ned erwarb sich die Anfangsgründe der Orthographie, Geometrie, Fischkunde, ein bis zwei französische Redewendungen sowie einen tiefen Abscheu vor den Klassikern. Eine Eliza Doolittle war er nicht. Seine Fortschritte – falls das Memorieren eines Datums oder Rechenergebnisses alle zwei Wochen diese Bezeichnung verdiente – waren so gemächlich wie das Driften der Kontinente. Der Hauslehrer war außer sich. Er blickte Ned ins Gesicht und sah das Gesicht eines Klugscheißers. Er beschuldigte ihn, ständig die Tinte zu trinken, und er verbleute ihm den Hintern, so wie er ihm die Aufgaben einbleute. Ned ertrug es mit
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