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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Sie sah sich rasch um, dann flitzte sie auf die Tür zu. Babyklau!
    Neds Mutter stützte sich auf einen Ellenbogen und tastete um sich, erst nach dem Kind, dann nach der Flasche. Beide waren weg. Ihr Blick wurde klar und folgte den dürren Schultern der alten Frau, die im Schummerlicht am Ende der Scheune verschwand. Da begann sie zu brüllen, brüllte wie alle Sandstürme der Wüste, wie der Untergang des Universums. Das alte Weib hastete zur Tür, im Rücken die Schreie des Mädchens, im Verschlag neben sich blind um sich tretende Pferde. Der bärtige Patriarch wachte nicht auf. Wohl aber der Steinmetz. Er war Mitte Zwanzig. Tagein, tagaus jonglierte er mit Granitplatten, als wären es Zeitungen. «Halt sie auf!» rief das Mädchen. «Sie hat mein Baby!»
    Er flankte über die Seitenwand und setzte mit langen Schritten durch den Stall, als die Alte sich gerade durch die Tür zwängte. Sie wirbelte zu ihm herum, eine rostige Schere in der Hand. «Bleib weg!» zischte sie. Der Schlag kam wie ein Infarkt, heimtückisch und brutal. Er traf sie an der Schulter, und sie brach zusammen wie ein Bündel Reisig. Unter ihr ertönte das Klirren von Glas. Und das Wehgeschrei eines Säuglings.
     
    Der Steinmetz hieß Edward Pin. Alle nannten ihn kurz Ned. Er nahm die Kleine und ihr Kind mit in seine Bude an den Docks von Wapping. In seinem Kopf wütete ein fürchterlicher Kater. Sie hatte ihn in ihren Tränen gebadet, und er hatte sich wie ein Held gefühlt, wie sehr sein Schädel auch dröhnte. Der Säugling hatte anscheinend einen Schnitt quer über die Brust abgekriegt, als die Flasche zerbrach. Pin machte ein Feuer aus etwas Holz und einer Handvoll Kohlen. Die Haare des Mädchens hingen offen herab, während es sich über das Baby beugte, um seine Wunden zu versorgen. Ihr Name war Sarah Colquhoun. Sie war betrunken. «Ich werd’n Ned nennen», nuschelte sie. «Nach seim Retter.» Pin strahlte. Doch dann veränderte sich seine Miene, und er packte sie an den Haaren. «Nenn ihn ja nich Pin, du Hure. Von mir is der nich.»
    «Rise wer’ ich’n nennen!» brüllte sie zurück. «Ned Rise, du Dreckskerl.» Es war der metaphorische Ausdruck einer Hoffnung. «Willste wissen warum?   … Weil der wird sich nämlich erheben über diese ganze Scheiße, die seine Mutter mitmachen muß, seitse noch kaum ihr’n eigenen Namen sagen konnt.»
    «Ha!» sagte er höhnisch. «In Blut getauft. Und Gin. Und mit ’ner Schnapsdrossel von Nuttenmutter. Da hab ich aber ziemlich große Zweifel.»
     
    Neds Erinnerung an seine Mutter ist lückenhaft. Ein verhärmtes Gesicht, nur Backenknochen und Augenbrauen, die Haut straff gespannt wie Leder auf dem Schusterleisten. Hartnäckiges Husten die ganze Nacht hindurch. Tuberkulöse Blässe. Zuviel Grün im Gesicht. Sie war tot, als er noch nicht mal sechs war. Pin war von Natur aus ein gewalttätiger Trinker mit dem Temperament einer Katze, der man das Fell angezündet hat. Wenn er von der Arbeit heimkam, war er weiß vom Steinstaub, die Augen blutunterlaufen vom Alkohol. Den Feierabend verbrachte er damit,den Jungen zu quälen, nur weil es ihm Spaß machte, wie ein Zehnjähriger mit einem Frosch oder einer Ratte. Er schnürte Ned die Füße zusammen und hängte ihn im dritten Stock aus dem Fenster wie ein Paar nasse Hosen. Er klemmte Ned die Ohren im Nachttopf ein, zog das Rasiermesser auf Neds Rücken ab, tauchte Neds Kopf sechzig Sekunden lang in eine Wanne mit Wasser. «Ersäufen wie ’ne Ratte werd ich dich!» knurrte er dabei.
    Als der Junge sieben war, fand der Steinmetz, es sei nun an der Zeit, daß Ned sich seinen Unterhalt verdiene. Eines Abends stand er mit einem Knäuel Paketschnur in der Tür, packte den Jungen im Genick, drückte ihn nach unten, knickte ihm das Bein am Knie ein und zurrte es in dieser Haltung so fest. Dann schnitt er Neds Hose in Schienbeinhöhe ab, machte ihm aus einem Besenstiel eine Krücke und schickte ihn zum Betteln auf die Straße. Es ging ein kalter Wind, und die Verschnürung schnitt schmerzhaft ins Fleisch des Jungen. Egal. Sieben Jahre alt, mit eingefallenem Bauch und verschmiertem Gesicht, torkelte er wie ein betrunkener Storch herum und erbettelte sich Bares auf Russell Square, Drury Lane, Covent Garden. Aber der Bettelstand war ein beliebter Beruf in jenen Tagen, und es herrschte harte Konkurrenz. Armeen von Amputierten, Aussätzigen, Schwachsinnigen, Paralytikern, Brabbelköppen, Sabbermäulern und Jammerlappen säumten die Straßen Schulter an Schulter.

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