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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Da war der Mann ohne Beine, der im Nachttopf hockte und auf den Fingerknöcheln herumhoppelte wie ein Affe; die Frau ohne Gliedmaßen, die den Leuten mit der Zunge die Stiefel polierte; der Hundemensch mit kurzem Schwanz und gelben Fangzähnen, die ihm über die Lippe ragten. Ned hatte keine Chance.
    Ein Pfund hatte zwanzig Shillings, ein Shilling zwölf Pence, ein Penny vier Farthings. Als Ned am ersten Tag mit zwei Farthings nach Hause kam, verprügelte ihn Pin.Am nächsten Tag, nach sechzehn Stunden inständigem Flehen, Bitten und Beschwören, konnte Ned nichts weiter vorweisen als ein Stück Schnur, drei Haselnüsse und einen Messingknopf. Pin verbleute ihn von neuem, wobei er sich diesmal ganz besonders Nase, Mund und Oberkiefer widmete. Infolgedessen ähnelte Neds Gesicht danach in Farbe und Konsistenz einer überreifen Pflaume. Diese Veränderung zog eine leichte Verbesserung der Einnahmen nach sich, doch erforderte dies nun jeden Tag frische Schläge. Nach einem Monat zerrte sich Pin einen Muskel in seinem Prügelarm. Es mußte doch auch einfacher gehen, dachte er sich. Dann kam ihm die Idee. «Ned», rief er. «Komm doch mal her!»
    Pin saß am Tisch, vor sich ein Glas Gin. Der Boden war knöcheltief übersät mit Plunder und Papier, mit Schweine- und Hühnerknochen, Holzspänen, Glassplittern, Tonscherben, Federn. Ned kauerte in der Ecke und gab vor, unsichtbar zu sein. Der Steinmetz warf den Kopf herum. «Komm her, hab ich gesagt!» Ned kam. Ein Fleischermesser lag auf dem Tisch, kalt und fleckig. Als Ned es sah, fing er an zu wimmern. «Halt die Klappe!» brüllte Pin und zog die rechte Hand des Jungen auf die Tischplatte. Seine eigene schmutzige Faust begrub sie wie eine Kapuze. Zitternd und verletzlich lagen die Finger des Jungen auf dem Klotz, blaß wie Opferlämmer. Unter den Nägeln waren schwarze Halbmonde. Das Messer sauste herab.
    Mit dem Arm in der Schlinge, um die verstümmelte Hand gut zur Schau zu stellen (Pin hatte an jedem Finger, einschließlich des Daumens, das Vordergelenk amputiert), besserte sich Neds Umsatz. In ein paar Monaten kam er auf sieben oder acht Shillings pro Tag: ein kleines Vermögen. Pin gab den Steineklopferberuf auf, hockte die langen Nachmittage hindurch in Kneipen und Kaffeehäusern, stopfte sich mit Ente in Orangensauce voll, schüttete Wein in sich hinein und betatschte mit seinen breiten, schwieligenHänden die Busen und Hintern von Freudenmädchen. Ned fror sich dafür auf der Straße den Arsch ab, würgte Brotrinde und Kohlsuppe hinunter, und der Verlust seiner Fingerspitzen war ein ständiger Schrecken für ihn, ein Alptraum im Wachen. Er wollte wegrennen. Er wollte sterben. Aber Pin hielt ihn sich gefügig, mit Schlägen auf den Hinterkopf und mit der Androhung weiterer Verstümmelungen. «Soll’ch dir den Rest von die Greiferchen auch noch abhacken? Oder vielleicht die Hand dazu? Wie wär’s denn gleich mit’m ganzen Arm, häh?» Dann lachte er immer.
    Eines grimmigen Nachmittags, als der Ex-Steinmetz gerade aus dem «Lieblingsast der Elster» über die Straße getaumelt kam, um die Taschen seines Mündels zu inspizieren, riß ihn ein von vier prächtigen rotbraunen Pferden gezogener Landauer zu Boden. Er verhedderte sich im hinteren Federmechanismus der Kutsche und wurde etwa hundert Meter weit übers Pflaster mitgeschleift. Eine Frau schrie auf. Er war tot.
     
    Die nächsten paar Jahre lebte Ned auf der Straße: bettelte, klaute, fraß Küchenabfälle, hin und wieder fand er Unterschlupf bei Bekloppten, Päderasten oder Hackebeil-Mördern. Es war ein hartes Leben. Keine Hand spendete Trost, keine Stimme erhob sich zum Lob. Er wuchs auf wie ein Wilder.
    Doch dann, mit zwölf, wendete sich sein Glück. Es war eines Morgens in den Vauxhall Gardens, er räumte ein paar Taschen aus und riß Rinde von den Parkbäumen, als ihn plötzlich ein zitternder Ton in der warmen, unbewegten Luft aufhorchen ließ, ein überirdisches Flöten wie aus den Tiefen des Traums. Es schien hinter dem Springbrunnen herzukommen, von den Blumenrabatten. Als er dort ankam, sah er eine bunte Menge von Spaziergängern   – Lebemänner und Kavaliere, Damen und Dirnen, Kindermädchenmit Säuglingen, Stutzer, Beutelschneider, fahrende Hausierer   –, die alle um einen Mann versammelt waren, der auf einem Holzblasinstrument spielte. Der Mann war kahlköpfig, Gesicht und Glatze knallrot wie roher Schinken, mit kugelrunden Backen. Dicke Fleischlappen hingen ihm über den Kragen und

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