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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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schwangere Frauen und dreckige Kinder mit all ihren Hernien und Furunkeln, ihren Pocken und Pestbeulen – sie flößen ihm Schrecken ein, kein Mitleid. Er will keine Wunden waschen oder Adern aufstechen oder Breiumschläge auf Geschwülste und Läsionen legen – er will sich am liebsten übergeben, wegrennen will er.
    Dem Himmel sei Dank für Gleg. Auch wenn er zwei linke Hände und zwei Gesichter hat, schlaksig und ungraziös ist, ein fremder und aufdringlicher Gast in ihrem Haus, wenigstens lebt und atmet er, geht auf zwei Beinen und bietet eine deutliche und unverfehlbare Zielscheibe für den Enthusiasmus des Alten. Seit Gleg da ist, gibt es keinen Druck mehr. Sind irgendwo Pferde anzukoppeln, Knochen zu schienen, Kräuter zu sammeln und zu zerstampfen, immer wird Gleg gerufen. Gibt es irgendwelche Moralpredigten anzuhören oder Meckereien über die Preise, das Wetter, Haarpuder oder den «blöden Deitschen-König», immer muß Gleg gesenkten Kopfes dasitzen und Aufmerksamkeit heucheln. Das heißt zwar noch lange nicht, daß der gute Doktor seinen einzigen Sohn jetzt vernachlässigt – keineswegs. Das Schelten und Redenschwingen geht weiter, er schimpft immer noch über seine träumerische Art, seinen Mangel an Ehrgeiz, seine Kleider und Haare und Ansichten, und gelegentlich zerrt er ihn auch noch hinaus in den schneidenden Wind, um den einen oder anderen Hausbesuch zu machen. Nein, das wird sich nie ändern – solange Zander unter seines Vaters Dach lebt. Aber immerhin lenkt Gleg den Alten einstweilen recht gut ab. Zander kann Atem schöpfen. Er kann sich zurücklehnen und vor dem Kaminfeuer Sherry schlürfen. Patiencen legen, Gedichtelesen. Oder sich einen Schal um den Hals schlingen, über die öden Hügel wandern und sich fragen, was in Gottes Namen er mit seinem Leben anfangen soll.
    «Zander!» Ailie steht in der Tür, ein Badetuch in der Hand. «Hilfst du mir mal mit der Wanne?»
    Zander sieht von seinem Buch auf. Draußen sind die Flocken zu Schneeregen geworden. «Baden?» sagt er. «Bei dem Wetter?»
     
    Die Badewanne ist ein Erbstück. Dunkel und massiv, ein Duft von Meer, ranziger Seife, nassem Haar und Schimmel und Alter. Euan Anderson, Ailies Großvater, hat nach der Schlacht von Culloden gegen die Engländer in ihr gebadet. Ihre Urgroßmutter Emma Oronsay hat eine Menge Schaum darin geschlagen, während Händel auf einem Galaboot die Themse hinabfuhr, und Godfrey Anderson, ihren Großonkel väterlicherseits, fand man tot in ihr liegen, das Wasser tiefrot, die Handgelenke bis auf den Knochen zerschnitten. Geister und Echos. Ailies letzte Erinnerung an ihre Mutter war mit dem Gefühl und dem Geruch dieser Wanne verbunden. Warmes Kerzenlicht, singende Kessel, sie und Zander beim Planschen und Spritzen, und diese Frau mit den traurigen, trostlosen Augen, mit Haaren wie ein blühendes Kornfeld, diese Frau, ihre Mutter, tauchte die weichen Hände ein, um ihnen Rücken und Ohren und die Stellen zwischen ihren Schenkeln abzurubbeln. Eines Tages verschwand sie. Fuhr übers Wochenende nach Glasgow und kam nie mehr zurück.
    Euphemia Anderson, geborene St.   Onge, war begeisterte Anhängerin der Astrologie. Sie kartierte den Himmel, sprach von Sternen in Aszendenz und von Planeten in Konjunktion. «Investiere in den Getreidemarkt, James», riet sie ihrem Mann, «die Zeit ist jetzt reif dafür.» Oder: «Die Mähre wird heute fohlen. Es wird ein brauner Hengst werden, der auf dem linken Hinterfuß lahmt.» Ihr Sternzeichenwar Zwillinge. «Mein Pendant ist eine arabische Prinzessin», sagte sie. «Draußen in der weiten Welt. Ich werde sie niemals kennenlernen.»
    Ihre Tochter wurde im Juni geboren, neuneinhalb Minuten vor ihrem Sohn. Alice und Alexander. Zwillinge. Sie zog sie genau gleich an, mal in kurzen Hosen, mal in Röcken. Auf der Straße hielt sie Leute an und stellte ihnen heute ihre herzigen kleinen Töchter vor, morgen ihre frechen kleinen Söhne. Ganz besessen von der Zwillings-Idee – doppelte Körper, doppelte Gedanken, doppelte Finger und Zehen und Ohren und Augen   –, gingen ihr schon relativ belanglose Dinge wie Muttermale oder runzlige Hautläppchen, kaum größer als ihr Daumennagel, als schwerwiegende und verzerrende Abweichungen gegen den Strich. Es widerstrebte ihrem Sinn für das Ebenmaß. Als sie in Glasgow verschwand, nahm Dr.   Anderson die Zwillinge in die Hand. Zander wurde auf ein Internat geschickt, und Ailie fiel einer Gouvernante in den Schoß.
    Sie war sechs, als Mrs.

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