Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
zweitesmal.»
    «Aber ich hab ja gar nicht   … begreifst du nicht? Vor acht Jahren war ich doch nur für mich selbst verantwortlich. Wenn ich’s nicht geschafft hätte, dann wär das eben Pech gewesen. Aber jetzt habe ich neununddreißig Seelen am Hals, ganz zu schweigen von den Pferden und Eseln und dem Proviant und der Ausrüstung im Wert von vielen tausend Pfund. Mein ganzer Ruf steht auf dem Spiel.» Er hat sich erhoben und geht auf und ab. Plötzlich wirbelt er herum und sagt, brüllt beinahe: «Und die Männer – wenn die es nun nicht schaffen? Was ist, wenn das Klima sie packt und ihren Willen abtötet – was ist, wenn sie nicht mehr weiterkönnen?»
     
    Das ist keine rhetorische Frage.
    Als die Zeit gekommen ist, sich aufzuraffen und wieder loszumarschieren – unter tiefhängenden Wolken und einem so diffusen Licht, daß selbst die Vögel im unklaren sind, ob sie zwitschern sollen oder nicht   –, verweigern tatsächlich drei Männer den Gehorsam. Vielmehr bringen sie ihn nicht auf. Sind nicht einmal imstande, aufrecht zu stehen. Rome, Cartwright und Bloore. Martyn hat sich sogar zu einigen Stockschlägen auf die nackten Fußsohlen der Drückeberger hinreißen lassen, aber ohne Erfolg.
    «Sir!» bellt er den Entdeckungsreisenden an, der gerade an den Satteltaschen eines der Leitesel hantiert und das Gepäck festzurrt. «Drei der Männer verweigern den klaren Befehl zum Aufstehen, Sir!» Martyn läßt die Hacken knallen und salutiert zackig.
    Wollen nicht aufstehen? Verflucht. So etwas hat er befürchtet. Von Martyns säbelrasselnder Stimme ins martialische Bewußtsein zurückgeholt, strafft sich der Entdeckungsreisende und marschiert direkt zu der Hütte hinüber, in der die Drückeberger liegen. Die meisten Esel sind schon beladen, und die Männer stehen ungeduldig und mit roten Augen im Nieselregen herum und spucken eklige Schleimklumpen auf die schlammige Erde. Steifbeinig betritt Mungo die Hütte, er ist aufgebracht und bereit, all seine Frustration in einem heftigen Ausbruch abzulassen. Die Worte liegen ihm auf den Lippen – «Wie könnt ihr es wagen, ihr Simulanten!»   –, aber der Anblick der Männer hält ihn zurück – ihr Anblick, und auch ihr Geruch.
    Die drei liegen zusammengekauert in einer Ecke der Hütte, zu erschöpft, um die Augen zu öffnen oder wenigstens die brodelnden Moskitoschwärme zu verscheuchen, die beim Einsetzen des Regens aus dem Nichts erschienen sind und einem Gesicht und Hände und den sonnenverbrannten Hals schwärzen wie Schmutzflecken. Cartwright, in einer Pfütze Erbrochenem die Wange flach auf den Boden gepreßt, scheint zu schlafen; der alte Rome brabbelt leise vor sich hin, und Bloore liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke wie ein Katatoniker. Der Gestank ist schlimmer als in jedem Lazarett   … es ist der unangenehme Geruch von schwer gestörten Körperfunktionen, durch Krankheit aus dem Lot gebracht, aber auch von etwas anderem, etwas ganz Irdischem, Wesentlichem: dem tristen Hauch der Sterblichkeit.
    «Fragen Sie sie mal, ob sie aufstehn wollen, na los»,höhnt Martyn an der Tür. Und fügt in einer Art Kläffen hinzu: «Sir!»
    Mungo kniet sich neben Bloore und wedelt mit der Hand über dessen Gesicht, um die sich labenden Insekten wegzuscheuchen. Die Lider des Mannes zucken nicht einmal. «Bloore», sagt der Entdeckungsreisende mit gedämpfter Stimme, «können Sie gehen?»
    Der alte Rome, ein Fünfzigjähriger, der angeblich bei Saratoga gegen die Yankees gekämpft hat, hat die ganze Zeit leise vor sich hin gebrabbelt. Jetzt hebt er die Stimme wie in höchster Verzweiflung, als versuche er, eine unsichtbare Gottheit zu besänftigen, den Herrn der Hirngespinste, den Lieben Gott des Limericks: «Ich kannte mal eine, die war wie aus Holz», beginnt er; seine Stimme wird mit dem Rollen der Silben immer kräftiger, bis er laut brüllt. «Und auf ihre Herkunft ganz furchtbar stolz./​Ich tat sie besteigen,/​Um ihr zu zeigen,/​Daß   … daß   …»
    «Bloore!» ruft der Entdeckungsreisende, der schreien muß, um den Wahnsinnigen zu übertönen. «Soll ich eine Tragbahre für Sie machen lassen?» Der sieche Man starrt zur Decke hinauf, sein Atem pfeift durch die Nasenlöcher.
    «Daß   … daß   …», grölt der alte Rome.
    Der Entdeckungsreisende nimmt Bloores schwielige Hand. «Kann ich irgend etwas für Sie tun?»
    Endlich wendet Bloore sein unrasiertes Gesicht und die irren Augen dem Entdeckungsreisenden zu. An seinem Hals spannt

Weitere Kostenlose Bücher