Wassermusik
Blut in Wallung ist, macht einen Refrain daraus: «Schießen Sie! Schießen Sie!»
Ganz langsam, zentimeterweise, hebt der Entdeckungsreisende die Pistole, bis er über den Lauf hinweg den erbärmlichen kleinen Kerl anstarrt, der da oben im Baum bibbert. Der Augenblick dehnt sich ewig lange aus, der Jäger und seine Beute, Gewinner und Verlierer. Klein und ausgehungert, mit nasser, fast violetter Haut, glotzt ihn der Dieb aus hoffnungslosen Augen an, aus Augen, die schon erloschen sind, über denen eine milchige Trübe liegt, wie bei geschlachteten Kälbern oder überfahrenen Hunden. Der Oberschenkel des Mannes ist kaum stärker als Mungos Unterarm. Auf der Innenseite, dicht unter dem Bauch, ist das Fleisch zerfetzt, als wäre er in eine Maschine geraten, und an den Wundrändern kleben Haarbüschel und Erde und feuchte Blätter. Der Regen spielt eine Klagemelodie im Laub der Bäume.
«Schießen Sie!»
Der Entdeckungsreisende denkt an Sir Joseph Banks, an sein Buch, an London und den Trubel der Berühmtheit, an Ailie, die Kinder, die Sonne auf dem Yarrow.
Was tue ich da? denkt er. Was in Gottes Namen tue ich nur?
Dann drückt er ab.
BÖSES ERWACHEN FÜR SMIRKE
Der Knall ist entsetzlich laut, eindrucksvoll hallt er von den regennassen Felsen wider wie Dynamit in einem Konzertsaal, wie das wilde Grollen eines Berges, der zum Vulkan wird. Es folgt ein jämmerlicher Schrei, dann ein, zwei, drei weitere donnernde Gewehrschüsse. Ned Rise, allein in dem schmalen Hohlweg, denkt an strammstehende Soldaten, knatternde Banner, zeremonielle Salven, von denen die Füße erzittern, den Gruß an eine neue Epoche. Er lauscht diesen Schüssen mit einer Mischung aus Ekel und Erleichterung. Ekel beim Gedanken an den armen Tropf, der seine Klauerei so teuer bezahlte, Erleichterung darüber, daß der Große Weiße Held endlich zur Vernunft gekommen ist. Es stand nämlich schlimm, sehr schlimm. So wie die Männer vom Fieber und Durchfall kaum noch gehen konnten, der Regen sie ständig steckenbleiben ließ und die Kanaken ihnen das Hemd vom Leib stahlen, sah es schon so aus, als bekäme keiner mehr den Niger je zu Gesicht – weder Park noch der Leutnant, schon gar nicht die halbe Portion von Schwager. Und wo bliebe dann Ned Rise, der Überlebenskünstler? Auf einem Haufen mit den anderen, von den Eingeborenen ausgeplündert, über sich die kreisenden Geier. Sofern Park sich nicht zusammenreißt und ein bißchen die Muskeln spielen läßt. Die Schüsse sind ein guter Anfang.
Ned ist die ganze Zeit still geblieben, hat dem sich entfernendenGeschrei nachgehorcht und auf das Echo des Gnadenschusses gewartet. Nun geht er zu seinem Esel zurück, zieht den Sattel nach und befestigt die Riemen an den diversen Säcken und Kisten, die das Tier auf dem Rücken trägt. Der Regen ist stärker geworden, wenn das noch möglich ist. Als er sich nach der praktisch nutzlos gewordenen Muskete bückt, die Mungo in den Dreck geworfen hat, bemerkt er aus dem Augenwinkel eine Bewegung in der Schneise vor sich. Die nächsten Diebe? Wilde Tiere mit Appetit auf Eselskotelett – oder Menschenfleisch? Instinktiv greift Ned nach seinem Messer.
Da ist es wieder. Ein Huschen im Unterholz. «He!» ruft Ned und kratzt sich nervös an der Henkersnarbe unter dem Kragen. Der Pfad senkt sich hier in eine Lichtung – ein einsamer, massiger Affenbrotbaum, ein paar junge Schößlinge, Savannengras, wilde Blumen, dicke Klumpen von Dorngestrüpp – und führt dann in eine steinige Klamm, die wiederum von gigantischen Findlingen gesäumt ist. Auf Neds Ruf hin stockt die Bewegung. Irgend etwas ist dort hinten, gar kein Zweifel, und um nichts in der Welt will sich Ned näher heranwagen. Er wird einfach warten, bis die anderen kommen, denkt er gerade, da beginnen die Dornranken plötzlich mächtig zu schwanken, als versuchte ein großes Tier sie zu entwurzeln.
Ned reißt der Geduldsfaden; er hebt einen Stein auf, schleudert ihn ins Gebüsch und vernimmt überrascht das leise, unverwechselbare Klatschen von Stein auf Fleisch, einen Ton, den er als Junge beim Zielschießen auf Tauben zu erkennen gelernt hat. Im nächsten Moment teilen zwei schwarze Hände das Laub, und ein verärgertes Gesicht kommt zum Vorschein – aber was für eins! So schwarz und wild wie das eines Gorillas. Nein: noch schwärzer und wilder, denn es ist das Gesicht eines Menschen. Die Augen funkeln aus Höhlen, die mit Ocker rotgelb gefärbt sind, tiefe senkrechte Narben zerfurchen Stirn und Wangen
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