Wassermusik
Niagarafälle, es prasselt und gießt wie eine Sintflut, geht auf die Ebene nieder und füllt die Täler, beugt Bäume und Büsche, fetzt das Laub weg, läßt Staub aufspritzen, fegt über die nackten Felshänge der Berge wie die Salven eines Zerstörers. Augenblicklich sind alle Kisten und Packballen klatschnaß, die Männer triefen wie mit Eimern überschüttet, an den Eseln rinnt es herab wie aus Dachrinnen. Brodelnd und braun von tonnenweise gelöstem Staub kommt das Wasser den Hügel herab auf sie zu, ein Bach, ein Fluß, ein Strom, der Regen prallt von dem harten Boden ab und stürzt mit einem schrecklich schlürfenden Ton bergab.
Das erste Opfer ist Shaddy Walters. Als der Wind aufkommt, plötzlich und mit Macht, arbeitet sich der Chefkoch der Expedition gerade über eine rauhe rötliche Granitplatte, die riesengroß und bucklig ist wie der Rücken eines Wals. Gleich links von ihm ein siebzig Meter tiefer Abgrund; zur Rechten erhebt sich eine jähe Wand noch einmal vierzig Meter. Nahezu sofort reißt es ihm den breitkrempigen Strohhut vom Kopf, der über die Wand davonschießt, als wäre er ein Wattebausch, und der Staub peitscht ihm in die Augen wie eine neunschwänzige Katze. Unter dem Klappern von Töpfen und Pfannen sinkt sein Esel wiehernd auf die Hinterbeine. Der Druck läßt einen Reissack platzen, und die harten Körner stieben dem Koch wie Schrotkugeln ins Gesicht, werden von einer kräftigen Bö in die Troposphäre emporgefegt und Hunderte von Meilen weiter nördlich im kahlen Wüstenboden ausgesät. Shaddy Walters bekommt es mit der Angst. Hektisch zerrt er seinen Esel am Zügel, als Mungo auf seinem Pferd vorbeidonnert und irgend etwas in den sausenden Wind brüllt. Der Esel ist in heller Panik, seine Augen rollen wild im Kreis, seine Hinterbeine rutschen auf den Abgrund zu, der Schwanz peitscht ins Nirgendwo.
«Jeder für sich selbst!» kreischt Jemmie Bird, der jetzt vorbeihastet, rutschend auf allen vieren vorwärtskrabbelt – über den Granitbuckel hinweg nach oben, in den Schutz einiger kahler Krüppelbäume auf dem Plateau. Mit elektrisierendem Geklapper fliegt plötzlich einer der großen Regiments-Kochtöpfe quer über den Eselsrücken, löst sich vom Haltestrick, prallt von der Felswand ab und poltert klirrend die Schlucht hinab, es dröhnt und dröhnt und dröhnt immer leiser, wie ein Schlagzeugbecken, das vom Gipfel des Ben Nevis herunterfällt. Die Idee, so wie Jemmie den Esel im Stich zu lassen, drängt sich dem Koch geradezu auf, doch er schiebt sie beiseite. Shaddy Walters mag ein Ekel sein, auf jeden Fall ist er ein sturer Bock. Ein Mann, der ungerührt wochenlang dreimal täglich Reis mit Zwiebeln auftischt. Der den schwarzen Tee so lange wieder aufkocht, bis er wie rostiges Kanonenrohr schmeckt. Der einen widerspenstigen Esel bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag am Zügel festhält.
Und genau das tut er auch. Zwei Minuten später schlägt der Regen los wie eine Ohrfeige, verwandelt das schmale Sims in eine Schlittschuhbahn, und Shaddy stürzt samt Esel Nr. 27 dem ewigen Frieden entgegen, verängstigt und verbissen ineinander verkeilt trudeln sie auf die Geröllhalde tief unten zu wie gigantische Hagelkörner. Falls sie aufschreien, dünne sterbliche Stimmchen in der heulenden Leere, hört sie jedenfalls keiner.
Der Regen hat vor wenigen Minuten eingesetzt, und schon sind von den einundvierzig Überlebenden, Mungo nicht mitgezählt, achtunddreißig am Boden und übergeben sich. Gelbfieber, Ruhr, Ausschlag, Schüttelfrost, schwarzer Auswurf. Der Entdeckungsreisende sieht das nicht zum erstenmal. Die Männer krallen ihre Bäuche, als hätten sie eine Ladung Schrot in den Unterleib bekommen, und wanken auf das kleine Dornengestrüpp zu, über das Mungo in hektischer Eile eine Art Dach aus Segeltuch zu legen versucht,um Schießpulver, Reis und die rostanfälligen Musketen zu schützen. Manche haben es geschafft, ihre Esel festzuhalten, andere nicht. Fast alle brechen keuchend und zitternd auf dem kleinen, von Regenpfützen und Erbrochenem bedeckten Stück ebenen Bodens zusammen, das der Entdeckungsreisende halbwegs hat überdachen können. Einer von ihnen, der achtzehnjährige Cecil Sparks, weint. Das Geräusch geht beinahe unter in der Kakophonie aus knallendem Segeltuch, dem Donnern des Wolkenbruchs und dem magenzerfetzenden Stöhnen und Würgen, aber zu hören ist es dennoch: ein Winseln in den kurzen Pausen, ein Schluchzen aus voller Kehle, der Klang von Hoffnungslosigkeit, von
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