Wassermusik
M’Keal, der alte Haudegen, dessen Bart schlohweiß auf dem pflaumenroten Gesicht wuchert, wacht stundenlang neben ihm und bietet ihm hin und wieder einen Schluck Rum oder Palmwein zum Kurieren all seiner Leiden an. Martyn, der nun schon vierzig Gefährten hat abkratzen sehen, ist ungerührt. Pfeifend hockt er unter dem Baldachin, wo er die Musketen putzt und nachlädt. Ned hat den schmächtigen Kerl nie besonders leiden können – er war ein Kumpel von Smirke – und ist ohnehin viel zu beschäftigt, den Entdeckungsreisenden, den Kompaß, die Karten und das Ruder im Auge zu behalten, als sich um ihn zu sorgen. Und Mungo, der über die Möglichkeit des Scheiterns und die boshaften Wesenszüge und Gewohnheiten des Sahelmauren nachgrübelt, hat für keinen von ihnen Zeit. Trotzdem wünscht niemand Frair Böses – jeder wäre froh über seine Genesung. Schließlich: wenn er stürbe, wer käme wohl als nächster dran?
An diesem Nachmittag – irgendwann Mitte Dezember 1805 – treibt sie die Strömung auf einer riesigen, weiten Wasserfläche unter der brennendheißen Äquatorsonne entlang, in den Bäumen singen laut die Vögel, Insekten summen in Ohren, Augen und Nasen, als Frair plötzlich hochfährt und wie ein Trunkenbold im Delirium tremens loskreischt. Er hält das nicht mehr aus, brüllt er. Die Hitze, das Fieber, den Gestank nach Tod. Amadi und seine Leutesehen weg, M’Keal beugt sich über den tobenden Soldaten und versucht, ihn zu beruhigen. Aber vergebens.
So viele Schrecken hat er durchgemacht, im Gefängnis, auf Goree, auf dem Marsch, so viele Krankheiten nagen an ihm, aber was Frair schließlich den Rest gibt, ist, daß er von dem Guineawurm
Dracunculus medinensis
befallen ist. Schmerzhaft, ekelerregend, aber normalerweise keine große Sache. Der Entdeckungsreisende selbst quält sich gerade durch seine zweite Infektion, und Martyn hat sich erst vor zwei Wochen so ein Vieh aus dem Bein gezogen. Für Frair jedoch ist der Gedanke an das blinde Wesen – diesen Wurm, der da in ihm lebt und gedeiht, sein Fleisch auffrißt, ihm ins Blut pißt und kackt – einfach unerträglich.
Am Vortag war ein Furunkel in seiner linken Kniekehle aufgeplatzt; Mungo machte ihm mit einer Überdosis
fou
etwas Mut, um dann die Wunde zu reinigen und zu behandeln. In der feuchten Knospe der offenen Wunde, blaß wie Bauchfleisch, ringelte sich das hintere Ende eines weiblichen Guineawurms und tat dort, was die Natur von ihm erwartete: anschwellen, gebären und ausstoßen von Millionen winziger Larven ins Fruchtwasser des Eiters. Mungo hielt den sichtbaren Teil des Parasiten behutsam fest und wand ihn um ein Stöckchen; dann bückte er sich, um sich die Hände im Fluß zu waschen. Und das war’s auch schon: er hatte getan, was er konnte, um Frairs mißlichen Zustand zu lindern. Weder entfernen noch töten konnte er den Wurm, dessen etwa ein Meter langer Körper tief im Bindegewebe von Frairs Unterschenkel eingebettet war, eng zusammengerollt wie Garn auf einer Spule. Ganz langsam, Stück für Stück, mußte man ihn herausziehen, indem man ihn auf das Holz aufrollte, drei bis fünf Zentimeter pro Tag. Falls er aber riß und im Bein abstarb, würde er unwiederbringlich dort verfaulen, und die Gangräne würde Frair umbringen.
In seinem Elend, seinem Ekel und seiner Angst begeht Frair die große Dummheit, daß er das kleine Hölzchen, das an seinem Knie befestigt ist, abreißt und damit den Wurm durchtrennt. Einen Moment lang reagiert niemand, und der Lärm, der ihnen seit dem Dibbie-See um die Ohren schlägt, tost durch die Stille. Endlich stößt M’Keal einen Pfiff aus – scharf und kurz, wie nach einem Hund oder in Bewunderung eines erfolgreichen Anglers –, und Amadi spuckt sich in die Hände, was angeblich Glück bringt. Mungo, der von Frairs Ausbruch überrascht wurde, steht nur über ihm und sieht in die Wunde, die wie ein offener Mund glänzt. Dann schüttelt er den Kopf und wendet sich ab.
Ein Anhalten, um ihn zu begraben, kommt natürlich nicht in Frage. Am Weihnachtstag (oder so ungefähr; der Entdeckungsreisende hat bei dem chaotischen Gewirr seiner Aufzeichnungen das genaue Datum aus den Augen verloren) wird Frair, von oben bis unten mit Fliegen übersät, offiziell für tot erklärt. Als Hauptmann und Leiter der Expedition murmelt Mungo ein paar Worte über der Leiche, ehe er sie den gelben Fluten des Niger übergibt, den Tigerbarschen, Schildkröten und Krokodilen.
Als Mungo in dieser Nacht im Mondschein
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