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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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seine Uhr aufklappt, stellt er fest, daß sie unerklärlicherweise stehengeblieben ist. Das deutsche Fabrikat mit dem silbernen, eingravierten Gehäuse ist ein Geschenk von Ailies Vater aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, als der junge Entdeckungsreisende zum erstenmal seine Taschen packte und nach Hinterindien aufbrach, übersprudelnd vor Hoffnung und Ehrgeiz. Jetzt, auf der sausenden Fahrt über das dunkle Wasser, scheint ihm diese Zeit so fern wie die Ära der Dinosaurier. Er klatscht die Uhr in seine Handfläche, hält sie sich ans Ohr. Roh und höhnisch heult ihn der unsichtbare Urwald mit Tausenden von Stimmen an. Mungo blickt zum Himmel auf, zu den ziehenden Sternen und denPlaneten auf ihren Umlaufbahnen, und läßt den verstummten Zeitmesser in die flache schwarze Suppe des Flusses fallen.

DIE ZONEN DER UNTERWELT
    Die Tage flitzen vorüber, straff gespannt wie Armbrustsehnen an den langen, verdorrten Nachmittagen, und wieder gelockert im kurzen Bogen der Abende, wenn die Sonne niederstürzt und der Nebel aufstiebt. Das Neujahr kommt und geht, undokumentiert unter einer Decke der Gleichförmigkeit und im Gestank der Verwesung. Still und unaufhaltsam gleitet die
Joliba
an verlassenen Dörfern vorbei, an Sandbänken, dicht besetzt mit sonnenbadenden Reptilien, an Vogelschwärmen so zahlreich, daß ihre Federn alle Kissen Europas füllen könnten. Der Fluß ist immer gleich, niemals gleich.
    In Kabara, dem Hafen von Timbuktu, verkalkuliert sich der Entdeckungsreisende. Am Vortag hat er zu früh ankern lassen, und statt so anzukommen, daß er sich an diesem bedrohlichsten aller Hindernisse im Schutze der Nacht vorbeidrücken kann, zieht sein Boot also plötzlich im grellen Licht des frühen Vormittags an den überfüllten Ufern und den dicht befahrenen Wasserstraßen vorbei. Als die Stadt nach einer Flußbiegung in Sicht kommt, ist Mungos erste Reaktion, seinen Augen nicht zu trauen. Nur eine Sinnestäuschung, weiter nichts. Ein Trugbild der überstrapazierten Nerven, erzeugt von Fieber und Angst. Aber es ist ganz unbestreitbar Kabara: die engen Reihen der Lehmhütten, die offenen Lagerhäuser, Schwärme von Kanus, die dort vorn auf der Wasserfläche wimmeln wie ein schwarzer Film. Abrupt wendet er sich an Amadi und fängt an, ihn in schlechtem Arabisch zu schelten, schrill wie eine alte Matrone, die ihren Mops ausschimpft. Der Führer zuckt bloß die Achseln.
    Mungo weiß nur eines: Sie müssen Kabara unter allen Umständen meiden. Timbuktu ist der Angelpunkt des maurischen Handels, die Drehscheibe zwischen Sahara, Sahel und Sudan. Wenn ihm irgendwo Widerstand droht, dann hier. Angewidert dreht er Amadi den Rücken und beordert seine Leute an die Paddel; er nimmt Ned Rise die Ruderpinne ab und reißt das Boot um 180   Grad herum. «Legt euch ins Zeug!» befiehlt er mit zusammengebissenen Zähnen, und langsam, mühsam beginnt die überladene
Joliba
, flußaufwärts zu kriechen. Nach einer Stunde jedoch ist Kabara immer noch in Sicht, die Männer sind ausgelaugt, und trotz aller Anstrengungen bleibt das Boot lediglich auf gleicher Höhe, ein Hindernis im Strom. Als erster sieht M’Keal die Nutzlosigkeit des Unterfangens. «Zum Teufel, Käpt’n», ruft er Mungo am Ruder über die Schulter zu, «solln wir uns etwa hier einen abbrechen, bis der Erzengel Gabriel in die Posaune stoßen tut oder was?» Der alte Soldat keucht die Worte mit Mühe hervor, seine Hände zittern am Paddel, er glüht im eigenen Saft wie ein Spanferkel am Spieß. Mungo überlegt kurz, dann verhärtet er sich wie damals auf dem Dibbie-See, wirft das Ruder voll herum, und die
Joliba
schwingt zurück in Richtung Kabara. «Macht euch bereit, alle Schiffe zurückzuschlagen, die sich auf unter fünfzig Meter nähern!» zischt er. Blaubart hätte es nicht besser sagen können.
    Diesmal stoßen tatsächlich Kanus hervor, um sie abzufangen. Lange, windhundartige Einbäume voller zorniger Muselmanen, die alle vorhaben, die
Nazarini
zu Ehren Allahs zu enthaupten und zu zerstückeln, sich für den Fehlschlag in Sansanding und das Gemetzel auf dem Dibbie zu rächen, ihr angeborenes, verbrieftes Handelsmonopol zu behaupten und diese käsigen Ungläubigen zu bestrafen, die das Recht, ihre Grenzen zu überschreiten, weder erbeten noch bezahlt haben. Die vor Zorn rasenden Mauren füllen achtzehn Kanus mit ihren Bärten, Zähnen und Speeren.
    Was den Mauren jedoch fehlt, ist die Feuerkraft. Obwohl ihre Kanus, geschickt gelenkt von Steuermännern der

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