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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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ist im Delirium. Im Delirium. Er bewegt sich in ihr, aber ihre Augen sind offen, sie reckt den Hals. Es beugt sich über das Boot, bäumt sich auf, glitschig und muskulös und naß – unmöglich, das kann nicht sein   –, am Ende hat es ein Gesicht mit Schlangenaugen, sein Schatten fällt auf ihre geröteten Wangen wie ein rascher, schmerzhafter Schlag.
    Nein. Das kann nicht sein.
    Sie schließt die Augen und hält sich ganz fest – als hinge ihr Leben daran.

WASSERMUSIK (REPRISE)
    Es ist irgendwann Anfang April – der fünfte? der sechste? – er ist sich da nicht mehr sicher. Die Zeit ist unwesentlich geworden. Es gibt nur noch die Sonne und das unerbittliche Drängen des Flusses, die lange Abwärtsfahrt zur Wiederauferstehung. Aber wiederauferstehen wird er, da ist er ganz sicher. Vergessen sind Hoffnungslosigkeit,Sinnfragen, Selbstzweifel. Die Karten liegen auf dem Tisch, und es sind alles Asse: der Niger hat einen Schwenk nach Süden gemacht. Genau wie er gehofft und gebetet hatte, genau wie Amadi es prophezeit hatte. Seit zwei Monaten treiben sie nun südwärts, und es ist, als wären sie mit Zuversicht geimpft worden. Südwärts. Zum Atlantik. Zu ihrer Ehrenrettung. Dem Ruhm entgegen.
    Nichts weiter als eine Flußbiegung. Aber sie hat Wunder bei jedermann bewirkt. Ned Rise hält die Ruderpinne viel lockerer, Martyn wird gesprächig und lächelt sogar bisweilen, und M’Keal zeigt – trotz seines immer noch getrübten Geistes   – Anzeichen der Genesung. Und warum auch nicht? Sie sind wie zum Tode verurteilte Häftlinge, deren Strafe plötzlich umgewandelt wird. Vor zwei Monaten waren sie dem Untergang geweiht; jetzt sind sie frei und auf dem Heimweg. Sie müssen nur noch ein bißchen länger aushalten – und wer weiß, mehr als einen Monat, oder nur eine Woche, kann es nicht dauern   –, um dann in London einen Empfang für Helden, vielleicht sogar eine Leibrente der Regierung zu bekommen. Ehe sie sich’s versehen, werden sie Bier und Bowle trinken, die Puppen tanzen lassen, sich an Fleisch und Kartoffeln, riesigen Laiben von Cheshire-Käse und Bergen von schartigen Austern laben. O ja: sie sind auf dem Heimweg.
    Natürlich gab es in den letzten Monaten nicht nur eitel Lieder und Frohsinn. Auch nachdem der Fluß sich nach Süden wandte, erwartete sie Schrecken auf Schrecken, gab eine Krise der nächsten die Hand. Feindselige Stämme scharten sich an den Ufern – die Jouli, die Ulotrichi, die Songhai und die Mahinga   –, und regelmäßig stießen Kanuschwadronen hervor, um ihnen den Weg abzuschneiden. Eines Morgens erwachten sie und sahen eine ganze Armee von Tuareg – nahe Verwandte der Mauren – von einer Klippe auf sie herabstarren. Es waren wohl an die dreitausend Mann, alle auf Kamelen, ihre indigoblauen
jubbahs
knatterten im Wind, ihre Bärte sträubten sich, zweischneidige Schwerter blitzten in der Sonne. Keiner von ihnen bewegte sich. Kein einziger. Als wären sie in Stein gehauen. Und dennoch war diese stumme Menge etwas Fürchterliches, Gräßliches, Unerträgliches – was taten sie dort oben, was wollten sie? Ein andermal, nach einem Scharmützel mit einer Flottille von Eingeborenenkanus, gelang es zwei schwarzen Fanatikern in dem Durcheinander, die
Joliba
zu entern, und sie waren gerade dabei, dem Entdeckungsreisenden seinen blonden Schädel abzuhacken, als Martyn herumwirbelte und sie mit einem Hagel von Säbelhieben erledigte. Noch Tage später befingerte Mungo seinen Hals so behutsam wie jemand, der rohe Eier in einen Korb legt.
    Das weitaus unangenehmste Ereignis des Südabschnitts ihrer Reise war jedoch die Fahnenflucht von Amadi Fatoumi. Man hatte ja vereinbart, daß Amadi beim Eintreffen in Yaour im Haussa-Land von allen Pflichten entbunden wäre. Dort sollte er den restlichen Lohn in Musketen, Schießpulver und Handelswaren empfangen (die erste Hälfte, in Kauris, hatte er in Sansanding erhalten) und dafür einen Führer vom Stamm der Haussa anheuern, der die Expedition auf dem restlichen Weg begleiten sollte. Schön. So war es vereinbart. Keinem gefiel es – und wenn sie nun keinen neuen Führer fänden? Wie sollten sie Amadi in Yaour an Land bringen, ohne sich einem Angriff auszusetzen?   –, aber damit mußte man sich abfinden. Daß er gehen würde, war klar, aber die Art seines Abgangs überraschte sie denn doch.
    Vor vier Wochen waren Amadi und seine Sklaven eines Abends gemeinsam aufgestanden, hatten Knochenplättchen, Kauris, Teekannen und Pfeifen eingesammelt

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