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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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erinnert die Szenerie an Milton oder Dante: Weinen und Wehklagen, Flagellantentum, zielloses Gerenne, Panik, verlorener Glaube. Mütter laufen kinderlos, Kinder mutterlos umher. Rauch und Staub hängen in der Luft, ein Tosen von Blut. Ein alter Mann steht auf der Straße und peitscht seine noch ältere Milchkuh aus, weil sie nicht mehr auf die Beine kommt unter der Last der Körbe, die er ihr auf den Buckel geladen hat. Ein anderer schleppt seine Frau, die ihren Hund schleppt, der ein Stück Stoff im Maul mitschleppt. Überall rennen und brüllen Menschen durcheinander, die Atmosphäre ist von wahnwitzigem Drängen erfüllt, sie trampeln durch den Treibsand und die Trümmer, die der Sturm hinterlassen hat, tragen Säcke voll Korn zusammen, treiben Vieh vor sich her: Sie flüchten aus dem kleinen Dorf am Wubah mit seinen Erdwällen, aus dem Dorf, in dem sie geboren sind.
    Der Entdeckungsreisende, wie immer etwas schwer von Begriff (irgendwas Genetisches), steht inmitten von all diesem Leid und Durcheinander und überlegt, was zu tun sei. Sich einfach dem Exodus anschließen kann er nicht, weil sein Pferd und sein Gepäck (das ihm auf Fatimas Drängen zurückerstattet wurde) im Sandsturm verlorengegangen sind – und zu Fuß, wie weit würde er daschon kommen? Außerdem ist Johnson weg, und die Mauren würden ihn doch bestimmt   … aber Moment mal – wo sind überhaupt die Mauren? Plötzlich fällt ihm auf, daß er seit mindestens zwölf Stunden keinen Moslem zu Gesicht bekommen hat   … und dann, noch plötzlicher, beginnt ein hinterlistiger Gedanke am Rande seines Bewußtseins zu nagen – ebenjener Gedanke, der letzte Nacht gerade aus den Kulissen treten und seinen Auftritt machen wollte, als ihm eine wettergegerbte Hand die Kalebasse hinhielt: Hier war endlich die langersehnte Chance!
     
    Was sich in Dscharra ereignet hat, ist ein im Grunde ganz elementarer Vorgang in den Gesetzen der Kriegsführung. Irgendwann im Laufe der Nacht hatte Ali einen Widerspruch gewisser Prioritäten festgestellt: Seine eigenen Interessen deckten sich nämlich nicht mehr mit jenen der Dscharraner, die letzten Endes ja bloß Kaffern für ihn waren. Der Abend zuvor war mit Gelagen und fröhlichem Vergewaltigen und Piesacken der Einheimischen vergangen, und danach hatte er zehn seiner Leute beauftragt, aus den Herden von Dscharra die dreihundert fettesten Rinder auszusuchen und sie zum Schutz vor dem Sandsturm in den Wald zu treiben. Er fand, dies sei in seinem besten Interesse – er sicherte ja damit bloß seine Investitionen. Die Dscharraner meinten ebenfalls, Alis Maßnahme sei letzten Endes auch in ihrem Interesse – schließlich hatte er damit ihre Vorauszahlung für seine Dienste angenommen. Dreihundert Rinder sind zwar ein schwerer Verlust, aber nicht, wenn man die Alternative bedenkt – also die ganze Herde zu verlieren, ganz zu schweigen von Ziegen, Ernte, Hütten und Töchtern, die dem tobenden, wahnsinnigen Tiggitty Sego anheimfallen würden, weithin bekannt für sein blutrünstiges und rachsüchtiges Naturell.
    Später in der Nacht jedoch, nachdem der Sturm abgeflaut war, trat ein weiterer Faktor zu der Gleichung hinzu:Ali erfuhr, daß Segos Truppen im Schutze des Unwetters bis dicht vor Dscharra marschiert waren und von dort einen Angriff bei Tagesanbruch planten. Diese Nachricht verstärkte Alis Prioritätenkonflikt noch. Da er Jungfrauen und Vieh schon abkassiert hatte, betrachtete er sich als zufriedengestellt – und er fand, ein Kampf mit der Armee von Kaarta würde ihm kaum zusätzliche Befriedigung verschaffen, ja er liefe dabei sogar Gefahr, zu verlieren, was er bereits gewonnen hatte. Allzu lange quälte er sich nicht mit dem Entschluß. In wenigen Minuten waren die Zelte abgerissen, die Männer aufgesessen. Sie ritten die ganze Nacht, neunzehn Ex-Jungfrauen unter die Arme geklemmt, und trieben das Vieh vor sich her. Am nächsten Abend würden sie zurück in Benaum sein.
     
    «Endlich frei!» jubiliert der Entdeckungsreisende mitten in einem Sumpf der Verzweiflung. Eine Frau hastet an ihm vorüber, ihr ganzes Leben schaukelt in dem Tonkrug auf ihrem Kopf. Mungo möchte mit ihr tanzen, ein Lied der Erlösung singen, brüllen wie ein Löwe, der seinen Käfig gesprengt hat. «Hihi», lacht er und wirft seinen Hut in die Luft, während ein paar wachstumsgestörte Kinder vorbeihuschen, rasch, dunkel und verstohlen wie Ratten. Er schlenkert die Beine, beginnt zu pfeifen: «Wo bist du nur gewesen, mein Täubchen

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