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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Knochen. Sie ist zur Hälfte kahl. Etwas glitzert auf ihrer Unterlippe.
    «Wie wär’s denn hiermit?» schnauft sie, indem sie ein Bündel geblümter Röcke vom Boden aufhebt. «Und mit dem da?» Sie langt nach einem Trumm von Schleierhaube, auf der sich Obstimitationen und goldglänzende Verzierungen türmen.
    «G-gut», stottert Ned, in dessen Armen sich immer mehr Baumwolle, Musselin, Wolle und Chintz stapelt. Die Situation ist ihm völlig entglitten, die alte Kupplerin macht ihn einfach sprachlos, und er kämpft innerlich mit dem Gefühl, daß er all das schon mal erlebt hat.
    «Petticoats?» Die Alte schielt ihn lüstern an. «Unterzeug?»
    Ned häuft die Sachen auf den provisorischen Ladentisch – ein über zwei Fässer gelegtes Brett. Die Trödlerin zieht einen verschmierten Zettel und einen Bleistift hervor und fängt an, Zahlen auf das Papier zu krakeln. Sie summt etwas. Nein: sie singt. Er erkennt die Melodie. Die «Ballade von Jack Hall».
    «Ach, es baumelt der Strick, und ich scheide dahin, scheide dahin», jammert sie und eiert durch die Oktaven wie eine Säge durch ein nasses Stück Holz. «Es baumelt der Strick, und ich schei-heide dahin.» Dann rollt sie mit den Augen. «Vier Shillings zwei Pence, du Wüstling», gackert sie. «Iiih-hiiih!»
    «Gibt’s hier ein Hinterzimmer?» will Ned wissen.
    «Hinterzimmer? Kannste nich warten, bisde in deiner eigenen jämmerlichen Bude bist? Was biste überhaupt für einer? Wohl so’ne perferse Type, wo sich in Weiberklamotten ein’ abwichsen tut wie ’n geiler Kater? Oder was? Häh? Biste so einer, du Firsichgesicht?»
    Ned legt einen Shilling dazu. «Zeig’s mir einfach, wo es ist, klar?»
    Die Alte deutet nach hinten und fängt dann an, ihr Geld zu zählen. «Komische Typen gibt’s. Iiih-hiiih!»
    Zehn Minuten später kommt er wieder aus dem Hinterzimmer, schön und verschämt. Die Röcke sind verdreckt und stinken ein wenig, aber von weiter weg merkte man es sicher nicht. Er hat sich das Käppchen unter dem Kinn festgebunden, das Haar straff nach hinten gekämmt und über das Ganze die gigantische Haube gestülpt.
    Die Alte hockt auf einem Schemel hinter dem Ladentisch, vor sich einen Zinnbecher und einen Krug. Als sie gerade den Becher in sich hineinkippt, erblickt sie ihn und stößt ein sonderbares, gurgelndes Lachen aus. «Daß wir Fasching ham, haste mir aber nich gesagt», prustet sie, klatscht auf das Holzbrett und gackert. «Oder willste am Ende zum Tuntenball gehn? Hääh? Iiih-hiih-hiiih!»
    Ned lüpft die Rockschöße und raschelt an ihr vorbei, fühlt sich zu unbehaglich, um ihr Kontra zu geben. Etwas an dieser alten Vettel stöbert in ihm ganz frühe Erinnerungen wach, versetzt ihm Stiche wie ein Alptraum im Uterus. Beim Verlassen des Ladens schaudert ihm, und in seinen Ohren klingt die splittrige alte Stimme nach:
     
    Ach, es baumelt der Strick, und ich scheide dahin, scheide dahin,
    Es baumelt der Strick, und ich schei-heide dahin;
    Hängen muß ich, bis mir bricht das Genick, bricht das Genick,
    Hängen muß ich, bis mir bricht das Geni-hi-hick;
    Bis mir bricht das Genick, denn getötet hab ich einen Mann,
    Und da er lag da auf der kalten, kalten Erd’.

INZUCHT
    «Zum Soho Square», sagt Ned.
    Der Sänftenträger beäugt Haube, Röcke, Volants. Er ist ein großer, selten häßlicher Kerl, dessen Kopf kahlgeschoren und viel zu klein für den Körper ist. Aus den Ohren wächst ihm das Haar in Büscheln. «Villmals Vazeihung, Madamchen, aber die Fuhre hier is schon bestellt», erklärt er.
    «Blöder Hund», knurrt Ned. «Siehst du nicht, wer ich bin?»
    Der Mann packt Ned am Arm und hindert ihn am Einsteigen. «Na, wer denn?»
    «Na, ich. Der Herr, dem die Fischeier da drin auf dem Sitz gehören.»
    Der Träger mustert Neds Brustweite, das gekräuselte Bändchen unter seinem Kinn, die Locken, die aus der Haube herabhängen. Er blickt auf den Korb mit Fischeiern, dann wieder auf Ned. Er ist verwirrt. «Ey, Bob», ruft er, und der zweite Träger steckt den Kopf hinter der Sänfte hervor. «Das war doch’n Mannsbild, wo wa von St.   James’s hergekarrt ham, oder wer ich jetz schon ganz varückt?»
    Bob ist klein und hat ein Mondgesicht, spitze Ohren und einen Flaum von grellroten Haaren, was ihm das Aussehen eines kastrierten Katers verleiht. «Nee, stimmt schon», sagt er. «So’n ältrer Herr, so mit Hinkefuß. Mächtich rausgeputzt mit Dreispitzhut un Parücke un so – wiese inne Zeit von mein Großvadda alle aufgehabt

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