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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Scheiße beschmiert wurde. Vorteile auf allen Seiten also. Doch es gab einen weiteren Pluspunkt der Sänfte: einmal drinnen, war man unsichtbar. Man zog einfach die Vorhänge zu und spähte durch die Spalten. Sehen, aber ungesehen bleiben.
    Gäbe es ein besseres Beförderungsmittel für einen Unsichtbaren?

DIE BALLADE VON JACK HALL
    Mit einer gewissen Mutlosigkeit sieht Ned zu, wie Boyles’ magere Schultern und der abgeplattete Kopf in der Menge verschwinden. Er blickt sich verstohlen um, fühlt sich nackt und verletzlich, ein Krebs ohne Panzer. Weiter vorn auf der Straße steht eine Reihe Sänften. Ned humpelt auf die erste zu, drückt dem Träger eine Münze in die Hand und verschwindet im Innern. Die Vorhänge sind zu. Es ist dunkel wie im Mutterleib. In Neds Kopf jagen einander die Listen und Finten und Gegenlisten. Er ist von der eigenen Stimme überrascht. «Monmouth Street», ruft er. «Zu Trödel-Rose.»
     
    «Trödel-Rose» ist ein auf Damenbekleidung spezialisierter Second-Hand-Shop, der von Sally Sebum immer wärmstens empfohlen wurde («Die hat echt die besten Angebote inner ganzen Stadt, diese Rose»). Er gehört zu einer Reihe von Gebrauchtwarenläden, die alle auf zwei Häuserblocks konzentriert sind und deren Kunden Bedienstete aus reichen Häusern (Verkäufer), Frauen von sparsamen Kleinbürgern (Käufer) und arme Leute (nur mal anschauen) sind. Die schlierigen Erkerfenster zur Straße hin zeigen die Formationen vergangener Moden: Reifröcke, Hüte und Fischbein-Korsetts; Petticoats, Sonnenschirme, Hüte, Häubchen und Tournüren. Über der Tür baumelt schief ein Schild:
     
    HIER WERN ALLE GEWENDER
    GEREINICHT BEVOR DEM VERKAUF
     
    Neds Sänfte setzt mit einem Scharren vor dem Laden auf. «Monmouth Street», verkündet der Träger und reißt die Tür auf.
    Während er im Dunkeln durch die belebten Straßen geschaukeltwurde, hat Ned sich ein paar Gedanken gemacht. Boyles, das wurde ihm klar, ist restlos unzuverlässig. Sobald der ein paar Schluck intus hat, wird er alles ausposaunen:
Ned Rise is am Leben! Ich hab doch mit ihm geredet! Richtich angefaßt hab ich’n!
Das Gerücht wird sich wie Tinte in Wasser verbreiten, die Runde durch die Bars machen, mit der Suppe serviert werden, bis es schließlich im Flüsterton die Ohren von Mendoza, Smirke, Twit und den übrigen erreicht. Zwei Wochen. Mehr braucht er gar nicht. Wenn er noch zwei Wochen durchhält, kann er fünfhundert Pfund von «Tschitschikoffs Auslese» loswerden und sich ganz aus der Stadt absetzen. Vielleicht sein Glück auf dem Kontinent versuchen. Paris, Den Haag, Livorno.
    «Monmouth Street», wiederholt der Sänftenträger.
    Ned rückt sich die Perücke zurecht und kommt hinkend hinaus. Er reicht dem Träger eine halbe Krone. «Warte hier», sagt er, «und hab ein Auge auf den Korb mit Fischeiern da, in Ordnung?»
     
    Eine anämische Glocke bimmelt über der Tür, als Ned den Laden betritt. Er befindet sich in einem übelriechenden Raum; nur wenige Lichtbalken dringen durch die Lawinen von Damengarderobe, die sich vor den Fenstern auftürmen. Es riecht nach Kleidern, die jahrelang ungewaschen auf Körpern klebten, zwischen den Beinen und unter den Achseln gekniffen haben und sämtliche dem Menschen bekannte Parasiten und Krankheiten beherbergen. Er sieht sich nach der Besitzerin um. «Bedienung!» ruft er. Der Laden scheint verlassen.
    Doch dann hebt sich, ganz hinten in einer Ecke, ein Lumpenbündel von dem allgemeinen Chaos hervor und schlurft auf ihn zu. Das Lumpenbündel entpuppt sich als ein altes Weib, das in eine mottenzerfressene Kutte gehüllt ist. Sie sieht aus, als ob sie sich ausschließlich von tausend Jahre alten Eiern ernährt. «Ja?» krächzt sie mit rostigerStimme. «Was woll’n wir denn? Kaufen oder bloß glotzen?»
    «Frauenkleider», sagt Ned. «Von oben bis unten: vom Rock bis zu den Handschuhen und Schulterstücken, dazu ein Käppchen mit Band unterm Kinn und die größte Haube, die du hast.»
    «Iiih-hiiih», kichert die Ladeninhaberin. «Bißchen was zum Rausputzen für die junge Dame, wie?» Sie pufft ihm den Ellenbogen in die Rippen und zwinkert.
    Ned hat plötzlich ein schwindelerregendes Déjà-vu.
    «Hast se wohl nackig in irgend ’ner Dachstube sitzen, was? Die Klamotten in Fetzen vom Leib gerissen haste ihr, hab ich recht, du Tier, du gräßliches? Iiih-hiiih!» lacht sie und pufft ihn noch einmal.
    Ned weicht zurück. Das Gesicht der Frau ist völlig fleischlos, die Haut spannt über den

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