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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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worin er sich verkriechen und in Ruhe nachsinnen kann. Wie viele Menschen vor ihm mögen schon in solch kühlen Grotten gerastet oder dort, von Unwettern überrascht, Zuflucht gesucht haben? Eine Sippe wandernder Steinzeitjäger etwa, Kelten aus der sagenhaften Stadt Damasia, Vindeliker oder Likaten, nach einem Überfall vom Weg abgekommene römische Fernhändler, entsprungene Sklaven aus der nahen Römerschanze, irische Einsiedlermönche, versprengte Reisige, vogelfreie Vaganten, Gaukler und Spielleute, wettergegerbte Holzknechte und abergläubische Köhler, in einen Gnadenort verlobte Wallfahrer, junge Handwerksburschen auf der Walz – und so spinnt er seine laienhaften Geschichtsbetrachtungen fort, sämtliche aufeinander folgenden geschichtlichen Ordnungen bemühend, bis er bei den harten, kraftvollen Gestalten von Flößern angelangt ist, die auf dem Rückweg in ihre Bergdörfer durchs Zwielicht stapfen – eine lange Prozession verschiedenster Menschen, in der Mehrzahl sind es freilich Männer, die er vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen lässt, bis hinauf in die jüngste, bis in die eigene betriebsame, aber seelenlose Epoche hinein. Das ist der Lauf der Welt, und wenn er sich’s recht überlegt, viel Gutes gibt es darüber nicht zu sagen. Haben all diese Leute wenigstens eine Spur von sich hinterlassen, irgendeinen schwachen Abdruck im Zeitgefüge, den er auf diesem steinigen Fleck womöglich fühlen kann?
    Am linken Hochufer entdeckt er im Schatten mächtiger Buchen einen Klettergarten, Felsbrocken, an denen Gruppen junger Bergsteiger ihre Griffe trainieren. Gelegentlich erklimmt er einen Baum, richtet sich darauf in einer Astgabel ein, späht aus dem Waldsaum müßig ins scheinbar leblose Land, das dennoch alles enthält, was er zu seinem augenblicklichen Wohlbefinden benötigt: in Ackerfurchen geduckte Hasen und Rehkitze, grün schillernde Käfer, schnelle Baumläufer, keckernde Eichhörnchen und Häher. Hier fühlt er sich befreit, die Beklemmung ist an einen Rand gewichen. Bald wird sie ihn wieder einschnüren, das steht nicht in Frage. Schwach weht ihn träges Kuhglockengeläute an, von fern hört er das monotone Brummen der Autos und das Knattern der Motorräder, die im Süden über die Hochbrücke rasen.
    Eine Zeit lang stiert er unverwandt vor sich hin und lässt die Gedanken streunen, bis ihn ein nicht mehr länger zu unterdrückender Schmerz in den Gliedern in die Gegenwart zurückholt. Kann er jemals ernsthaft so auf Wirkung bedacht sein wie dieser hoch aufgeschossene, linkische Bursche im schlotternden Anzug und mit dem straff nach hinten gebürsteten Haar, der unlängst auf dem Bolzplatz die Jüngeren mit dem betont lässig fallen gelassenen Hinweis beeindrucken wollte, dass er anschließend auf Brautschau gehen würde? Wie sonderbar der gelackte Nachwuchsgigolo doch auf ihn gewirkt hat, mit seinem aufgerissenen Zigarettenpäckchen, das er fahrig in die Runde hielt. Fast ein wenig lächerlich. Wie das Zerrbild eines Erwachsenen. Und die argwöhnische Pfarrschwester, die im Auftrag der Caritas unterwegs gewesen ist, unter ihrer steifen Haube wirkte sie streng und etwas unheimlich, er hat ihr aus dem Fenster nachgeschaut, wie sie nach ihrem unangemeldeten Besuch in der großelterlichen Wohnung auf einem riesigen schwarzen Fahrrad zur Pfarrei hochgestrampelt ist, was wollte sie eigentlich damit bezwecken, mit ihrem kaum verhohlenen Ausspionieren und der verfänglichen Fragerei? Sie wollte sich wohl vergewissern, dass alles seine schönste Ordnung hat, und er, der Bankert, rechtmäßig bei gläubigen Katholiken aufwächst. Nun, der Auwald ist seine Andacht, ihm bekommt das harte Kirchengestühl nicht, das Kniebeugen und der Weihrauchgeruch, von Letzterem wird ihm regelmäßig schlecht, während des Gottesdienstes muss er sich hinausflüchten zu den Halbstarken, die vor dem Portal herumlungern und nervös an ihren Glimmstengeln ziehen. Was hätte er auch schon groß zu beichten vor der Kommunion – dass er etwa Vater und Mutter nicht ehrt? Wie scheeläugig die Betschwester andauernd um sich geschaut und wie kritisch sie ihn doch gemustert hat.
    Als er dann nach stundenlangen stillen Betrachtungen über Gott und die Welt, gesättigt von der Natur, einem bittersüßen Weltschmerz und voller Mutmaßungen über die rätselhafte Vergangenheit, mit neu geschöpftem Lebensmut flussabwärts radelt, unter dem schaurig hohen Gerüst der Eisenbahnbrücke hindurch, die immer wieder die Selbstmörder anzieht

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