Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
Vom Netzwerk:
Schifffahrtsrouten über die sieben Meere ausdenkend, Anker werfend zwischen Atollen und Archipelen und immer wieder mit den Lippen sehnsuchtsvoll fremdartige Laute malend wie Amritsar, Hadramaut, Samarkand, Taklamakan, Karakorum, Addis Abeba, Timbuktu, Madagaskar, Mississippi, Hokkaido, Sierra Nevada, Chimborazo, Huascarán, Valparaiso.
    Nahe bei der Schule liegt ein kleiner Park, in dem Anwohner ihre Dackel ausführen und alte Männer in gepflasterten Nischen geruhsam Schach spielen. Nach dem Unterricht lungern dort in losen Grüppchen Schüler herum, auf die zu Hause niemand mit dem Essen wartet, und vertreiben sich die Zeit mit Kartenspielen. Dabei werden sie eines Tages auf einen schlicht gekleideten Mann aufmerksam, der zuerst eine Weile in sich gekehrt, mit vor der Brust gekreuzten Armen, auf einem Rasenstück steht, dann Arme und Beine anwinkelt und gemächlich dazu übergeht, gemessene, doch zugleich fließende Bewegungen auszuführen. Aus den Büchern, die er verschlungen hat, weiß Cornelius, er hat da einen Menschen vor sich, der chinesisches Schattenboxen praktiziert, und er beobachtet den sonderbaren Tanz mit gebannter Aufmerksamkeit. Seine unbedarften Mitschüler hingegen verlachen den unscheinbaren Mann, tippen sich mit dem Finger an die Stirn, ziehen hinter seinem Rücken Grimassen und ahmen ihn ungelenk nach.
    Mit einem gehörigen Mangel an Geltungssucht und Selbstachtung steht sich Cornelius selbst im Weg. Schlimm genug, dass er, seitdem er auf die weiterführende Schule geht, von den alten Spielkameraden gemieden wird, auf keinen Fall will er auch noch die prekäre Gunst seiner neuen Klassenkameraden verspielen. Er scheut sich davor, von deren flegelhaften Wortführern womöglich als Streber verkannt zu werden. Am meisten fürchtet er, zu einem von allen verachteten Günstling der Lehrer zu avancieren. Worauf er hingegen wirklich Wert legen würde, das bleibt ihm, trotz eifriger Bemühungen, verwehrt: Sein hartnäckig angestrebtes Ziel ist es, als Fußballer anerkannt und in die Klassenauswahl aufgenommen zu werden. Dafür ist er aber weder wendig noch standfest oder verbissen genug, im Allgemeinen ist er auf dem Platz zu lahm, er zögert zu oft, lässt sich den Ball unschwer abnehmen und wirft sich dem Angreifer nicht unter vollem Einsatz seines schmächtigen Körpers entgegen, weshalb er bei jedem hart ausgetragenen Zweikampf unweigerlich den Kürzeren ziehen muss.
    Immer öfter kommt ihn das Verlangen an zu türmen, zieht er in Erwägung, sich auf Nimmerwiedersehen davonzustehlen. Es geht ihm ähnlich wie dem schwermütigen jungen Tom Sawyer, der unter einer weit ausladenden Eiche davon träumte, von zu Hause durchzubrennen und danach entweder ein Seeräuberleben zu beginnen oder sich im Indianerterritorium den Rothäuten anzuschließen. Cornelius weiß natürlich, dass die Piraten aus seinen Büchern von den Weltmeeren so gut wie verschwunden sind und die Indianer längst nicht mehr auf den Kriegspfad gehen oder auf die Büffeljagd, sondern ihr Leben entweder als Bauarbeiter in Großstädten fristen oder als alkoholisierte Almosenempfänger in sogenannten Reservaten. Der Ausweg, der sich einem Tom Sawyer vielleicht geboten hat, ist heute versperrt. Die ersehnten Landschaften und Abenteuer sind entrückt und unerreichbar, also wird er mit dem wilden Mato Grosso vorlieb nehmen müssen, der im Labyrinth seiner Seele Raum hat. Geht er dort verloren, wird sich wenigstens keine Suchexpedition auf den Weg machen, die ihn retten und in die dröge Wirklichkeit zurückführen könnte.
    Wieso kann dieser lethargische Stubenhocker, dieser sture Eigenbrötler, nicht einfach hinaus auf die Straße gehen und mit den anderen in seinem Alter unterwegs sein? Warum nur muss sich der Wurm am helllichten Tag in seinen vermaledeiten Büchern und Heften vergraben? Warum kann er sich nicht, verdammt noch mal, in eine Gemeinschaft einordnen? Diese Fragen plagen seine Erzieher, und sie haben auch gleich eine Antwort parat:
Wart’s nur ab, eines Tages nehm
en
wir ihm den ganzen Schund für immer weg und schüren damit den Ofen ein!
    Wenn ihn das Gebaren seiner Angehörigen anödet, ihr nichtssagender Tratsch über die Nachbarn langweilt, und weil er auch nicht beständig bei den von ihnen in Bausch und Bogen geschmähten Büchern wachen will, holt er nun des Öfteren sein Stahlross aus dem Keller und radelt flussaufwärts. In den Nagelfluhwänden des Steilufers verbergen sich überhängende Felsen mit dunklen Höhlen,

Weitere Kostenlose Bücher