Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
eine hinreichende Antwort sein auf den niederträchtigen Napalmkrieg gegen die Reisbauern in Vietnam oder die brennenden Kreuze des KuKluxKlan in den Südstaaten der USA, ein probates Mittel gegen die russischen Panzer in Prag oder das griechische Obristenregime, gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze im eigenen Land, eine Kur gegen den Polizei- und Konsumterror, oder ist der Exodus am Ende nur ein ohnmächtiges Ausweichen in die Nischen einer geduldeten, weil käuflichen Subkultur? Bereichert der Besuch eines Gigs von
Ten Years After
oder
Family
den Alltag, fühlt er sich danach weniger gewöhnlich an als vorher? Und warum, zum Teufel, soll sich ein unreifer Schuljunge eigentlich den Kopf darüber zerbrechen, wo er doch gerade erst einen Songtext kapiert hat, in dem es unmissverständlich darum geht, ein Schulmädchen bumsen zu wollen,
hey baby, I wanna ball you all night long
…
Vor dem Beginn der Schulferien versucht ein Trupp Langhaariger, von denen einige, wie Cornelius von eingeweihten Sympathisanten zugeraunt wird, außerhalb der Stadt in einer Art Kommune zusammenleben, die seit über einem Jahr in der Schule gärende Unruhe noch mehr zu erhitzen. Sitzstreik lautet die Parole. Im großen Pausenhof soll gegen die beabsichtigte Relegation eines dem Lehrkörper unliebsam gewordenen Schülers demonstriert werden. Über Megafon fordern die in den Hof eingedrungenen Agitatoren die nach Unterrichtsschluss massenhaft aus dem Haupteingang strömenden Schüler zum Bleiben und Mitmachen auf. Für den Nachmittag ist eine Lehrerkonferenz anberaumt, auf der hinter verschlossenen Türen über den Rausschmiss entschieden werden soll. Die Eindringlinge haben einen Katalog von Forderungen aufgestellt, dessen einzelne Punkte von den Anwesenden ausdiskutiert werden sollen. Zunächst habe sich die Geheimkonferenz allen daran interessierten Schülern zu öffnen, dann müsse sich der Delinquent selbst dort verteidigen dürfen. Das Mindeste sei die Zulassung einer Delegation, die an Ort und Stelle unter den im Pausenhof Versammelten zu wählen ist.
Im Haufen der linken Aktivisten sehen viele aus wie Tramps oder Outlaws, tragen abgewetzte, zerschlissene Klamotten; die meisten Männer haben ungebändigtes, die Frauen hingegen kurzgeschnittenes Haar; allesamt zeigen bemerkenswert wenig Respekt vor dem rotgesichtigen, cholerischen Hausmeister und den aufgebrachten Lehrern, die in hilfloser Wut vor dem Megafon herumfuchteln und den Eindringlingen alle naselang mit der Polizei drohen. Ein quecksilbriger Typ bellt die darob schier entsetzten Autoritäten einfach mit der Flüstertüte nieder. In seiner speckigen Schaffellweste, den formlosen Kordhosen, die in abgelaufenen Bundeswehrstiefeln stecken, mit dem stechend fanatischen Blick, den schwarzen Bartstoppeln und scharf gescheitelten Haarsträhnen stellt er eine eigenartige Mischung dar aus Charles Manson, Django und Rudi Dutschke. Während alle Erwachsenen sich maßlos erregen, streichelt ein nickelbebrillter Jungrevolutionär wie beiläufig die Brüste einer Gefährtin, die sich entspannt lächelnd an ihn schmiegt. Ungeniert schiebt er seine Hände unter ihr weit aufgeknöpftes, verschossenes Männerhemd, dessen ursprüngliche Farbe einmal türkis gewesen sein mag. Der sich wie immer im makellos weißen Kittel präsentierende Biologielehrer stürzt fassungslos an Cornelius vorbei, der unverwandten Blicks vor dem malerischen Schauspiel stehen geblieben ist – einer ungeschminkten, rauen Hinterhofversion des gerade sämtliche Kassen füllenden Musicals
Hair
–, und zischt ihm erbost ins Ohr:
Solche Weiber würde ich ja nicht einmal mit der Beißzange anfassen!
Im selben Augenblick verliert der alte Zyniker seinen mächtigen, hochtrabenden Nimbus und schrumpft vor Cornelius’ Augen zusammen zur aufgeblasenen Gestalt des hässlichen Affen, der er in Wirklichkeit ist.
Ein großer Sitzstreik kommt leider nicht zustande, nur eine kleine Schar von Schülern fraternisiert mit den Störenfrieden, darunter etliche von Cornelius’ Klassenkameraden. Die Lehrer, selbst die von liberalen Anwandlungen heimgesuchten, verwahren sich gegen jede Form der Einmischung in ihre Oberhoheit, der Rektor macht irgendwann von seinem Hausrecht Gebrauch und lässt die Polizei rufen. Der Junge harrt noch so lange bei dem verbliebenen Grüppchen aus, bis zwei Beamte der politischen Polizei eingetroffen sind und alle zum Gehen auffordern. Beim Abzug rufen die Kommunarden zu einer Fortsetzung der Aktion
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