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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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einem Mal gut gelaunten Schüler über den ihnen leichthin zugefallenen Sieg umso lauter ausfällt. Liegt ihnen nicht buchstäblich die Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit zu Füßen, eine Welt, deren mächtige Oberhäupter sich soeben als graue Papiertiger erwiesen haben, indem sie, von einer Handvoll Kinder gedemütigt, Hals über Kopf in die Obhut eines Polizeihelikopters geflüchtet sind, der sich soeben dort unten wieder knatternd in die Lüfte schraubt?
    Nach der spontanen Anfechtung der Regierungsmacht auf der Nadel des Fernsehturms, die er mehr als staunender Beobachter denn als aktiver Teilnehmer miterlebt hat, nimmt nun auch Cornelius allen Mut zusammen und sucht nach einer passenden Gelegenheit, dem ureigenen Aufbegehren sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Unvermeidlich hängt in jedem Klassenzimmer neben der Tür ein in moderner Schlichtheit gehaltenes Kruzifix, eine abstrakte Abscheulichkeit, die ganz ohne die Schmerzensgestalt des Heilands auskommt. Zu Pausenbeginn holt Cornelius den hässlichen Fetisch mit entschlossenem Griff von der Wand und trägt ihn durch blank gewichste Korridore, gefolgt von einer Schar in der stumpfen Langeweile der Lehranstalt für jeden Jux empfänglichen Mitschüler.
    Die Prozessionsteilnehmer übertreffen sich gegenseitig im Erfinden von derben Schmähungen der alleinseligmachenden Kirche, von Lachkrämpfen geschüttelt mokieren sie sich über den eingeborenen Sohn und die unbefleckte Empfängnis, die heiligen Sakramente und die göttliche Dreifaltigkeit. Mit höhnischer Gebärde teilt Cornelius einen unheiligen Segen aus und schleudert unflätige Flüche von sich. Doch als er gerade in das konvulsivische Gelächter seines Gefolges einstimmen will, fährt er für einen Moment aus seinem Körper heraus und steht, für die anderen unsichtbar, eine Armlänge entfernt neben sich. Er sieht sich selbst das Kreuz frenetisch hin- und herschwenken, gewahrt die eigene verzerrte Fratze und wird sich bange der schrecklichen Blasphemie bewusst. Augenblicklich durchrieselt ihn eine fast heilige Scheu. Plötzlich findet er das unbesonnene, überschwängliche Benehmen des leibhaftigen Doppelgängers dumm und dreist, den von ihm angeführten Aufzug abgeschmackt. Vom Schwung der eigenen Handlung mitgerissen, kann er sich aber nicht mehr bremsen. Obschon ihn inwändig Scham und Furcht niederducken, hält er sich weiterhin straff aufrecht und forsch in Gang. Das bleierne Werkstück in seinen Händen, das er wie eine Monstranz hochhält, ein unlängst noch mit Inbrunst gehasstes Symbol nicht des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, sondern der Qual, des Leidens und der Unterwerfung, ist biegsam: Mit festem Griff packt er es an den Enden und verdreht die Kreuzbalken zu einer Art Teufelskralle.
    Als der gotteslästerliche Umzug in einen Quergang einbiegt, kommt ihm von allen Lehrern ausgerechnet der Referendar Demuth entgegen, ein junger liberaler Lehrer, der Deutsch und Religion unterrichtet. Angestrengt versucht Demuth, die üble Farce zu ignorieren. Die Blicke des Lehrers und seines ehemaligen Musterschülers kreuzen sich nur flüchtig, aber lange und eindringlich genug, um ein beiderseitiges Erschrecken und Bedauern zu registrieren. Kopfschüttelnd eilt Demuth weiter den Korridor entlang. Er wird den Vorfall höheren Orts nicht angeben. Selbstverständlich weiß er um die Bestrebungen innerhalb der Großen Koalition, den Gotteslästerungsparagrafen abzuschaffen, doch einem Schulverweis stünde dies garantiert nicht im Weg. Demuth ist einer der wenigen im Lehrkörper, denen von den Schülern mäßiger Respekt entgegengebracht wird, und das, obwohl er überhaupt nicht sadistisch veranlagt ist. Auch Cornelius hat ihn lange verehrt. Gern hätte er ihn zum Vater gehabt.
    Zum ersten Mal regt sich der sehnsüchtige Wunsch nach einem echten Vater auf der nächtlichen Heimfahrt von einem sonntäglichen Osterausflug zu Ludwigs Verwandtschaft, die am Rande eines Mooses einen alten Bauernhof bewirtschaftet. Auf der alten Holzbank vor dem gekalkten Anwesen hockend, nimmt ihn die pergamenthäutige Großtante in Empfang. Während sie ihn von unten herauf aus lauernden Augen ansieht, keucht sie aus zahnlosem Mund:
Gehörst jetzt zu den halbstarken Radaubrüdern in der Stadt, Bub, bist auch so ein Studenterl?
Sie hustet und spuckt einen grünen Batzen Schleim auf den Boden. In Berlin hat jemand einem charismatischen Studentenführer drei Kugeln in den klugen Kopf gejagt. Mit der schroffen Ansprache spielt die

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