Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
spekulieren darauf, dass sie in dieser so augenscheinlich von überholten Zwängen befreiten Umgebung beim anderen Geschlecht eher zum Zug kommen werden als in der verklemmten Atmosphäre einer Tanzschule. Sie haben sich jedoch gründlich verschätzt. Andere, kollektive Bindungen sollen eingegangen werden, festere Bindungen, die länger halten müssen als das unbeholfene Abenteuer einer Jugendliebschaft, deren Anbahnung vielleicht späteren Tagen vorbehalten bleibt.
Der Pausenhofprotest gegen die Relegation des Mitschülers war nur der Aufhänger für die Bildung einer schlagkräftigen Basisgruppe. Bei der Bewertung der zurückliegenden Aktionen gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze hat es sich gezeigt, dass der Streikaufruf an fast allen anderen weiterführenden Schulen befolgt worden ist, während es an der rückständigen Penne, in der Cornelius die Schulbank drückt, bloß zu einer halbherzigen Blockade der luftigen Haupttreppe in der Eingangshalle gereicht hat. Cornelius erinnert sich an das minutenlange bange Verweilen unter den Argusaugen patrouillierender Lehrer, die immer wieder theatralisch mit den Fingern auf die von ihnen in der störrischen Menge ausgemachten Rädelsführer hinwiesen, an das demonstrative Gehabe, mit dem sie Namen, die sie ohnehin auswendig wussten, in ihre Notizbücher schrieben. Irgendwann wurde der von den gefährlichen Wachhunden ausgeübte Druck zu übermächtig, die Angst vor bösen Folgen ließ die ohnehin schwache Streikfront bröckeln, die ersten verunsicherten Schüler schickten sich ins vermeintlich Unabwendbare und überredeten die noch Zögernden zum Einlenken und zur Wiederaufnahme des Unterrichtsbetriebs. An jenem brisanten Tag trug der fiebrig erregte Cornelius voller Stolz einen selbst gefertigten Anstecker, auf den er die Buchstaben SDS gemalt hatte, und der unvermeidliche Biologielehrer ging zähnefletschend auf ihn zu und höhnte im Dialekt:
Guad schaugst aus!
In einem atemlosen Stakkato verlautbart der vor lauter Nervenanspannung förmlich vibrierende Hartmut, der Typ mit der Flüstertüte vom Pausenhof, das Konzept der aus der Taufe zu hebenden Basisgruppe, wobei er sich eines unerhörten Jargons bedient, eines hochfahrenden Kauderwelsch, der zugleich eine Art Kriegssprache ist, von der die staunenden Neulinge total überwältigt sind:
der genosse mao sagt wenn man einen pfeil abschießt muss man ein ziel vor augen haben unser ziel ist es mit der projektierten basisgruppe ein instrument zu schaffen das die aktuellen konflikte an der schule aufgreifen öffentlich machen und verschärfen soll um so die schüler von einem konkreten nachvollziehbaren vielleicht personalistischen problem zur umfassenden kritik an der kapitalistischen ausrichtung der gesamten gesellschaft zu führen eventuell bereits bestehende politische arbeitskreise müssen umfunktioniert werden in kontinuierliche aktionsgruppen deren schonungslose antiautoritäre interventionen das taktische und abwiegelnde gemauschel der ohnmächtigen funktionslosen schülermitverwaltung mit den autoritäten entlarven werden
Cornelius saugt die scharfen Worte auf wie ein trockener Schwamm. Während Hartmut seine Ausführungen in die Runde bellt, taxieren die anwesenden Frauen die schüchternen Aspiranten mit nachsichtig amüsierten Blicken. Die Mehrheit der Jungen hat mittlerweile erkannt, dass aus den erwarteten Flirts so schnell nichts werden wird. Mit einigen für die Basisgruppe rekrutierten Mitstreitern verzieht sich Cornelius in einen Nebenraum, um unter der behutsamen Anleitung einer kettenrauchenden Genossin an einem aufrüttelnden Text für ein Flugblatt zu feilen, die restliche Bagage schiebt derweil enttäuscht und verlegen grinsend ab.
Mit den neu gewonnenen Genossen aus der Basisgruppe im Rücken sieht Cornelius das alljährliche Schulsportfest viel lockerer als früher. Die Wettkämpfe werden nicht »umfunktioniert«, sie werden einfach betont lässig angegangen. Statt sich wieder einmal völlig zu verausgaben und zuletzt doch nur, von Seitenstechen und Atemnot geplagt, unter »ferner liefen« über die Ziellinie zu torkeln, nimmt sich Cornelius alle Zeit der Welt, dreht unter den ironischen Anfeuerungsrufen der am Rand der Aschenbahn Stehenden bedächtig seine Runden, stößt die Kugel seitwärts, aber höchstens einen schlappen Meter weit, damit sie dem schneidigen, als Schiedsrichter amtierenden Sportlehrer vor die Füße rollen kann. Als privater Abgesang zum Konkurrenzprinzip legt er
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